Donnerstag, 20. Juli 2017

Anhang

Wer das elent bawen wel, der heb sich auf und sei mein gesel wol auf sant Jacobs straßen! Zwei par schuoch der darf er wol ein schüßel bei der flaschen.
Wer das Ausland bereisen möchte, der mache sich auf und sei mein Kamerad wohl auf Sankt Jakobs Straßen! Zwei Paar Schuhe, die darf er haben, eine Schüssel mit einer Wasserflasche.
(Jakobslied, 14. Jahrhundert)

Unterkunft

Man muss hier unterscheiden zwischen:
  • offizielle Herbergen
  • private Herbergen
  • Unterkunft bei privat
  • Pensionen und Hotels
Alle Formen sind auf dem Camino Portugues ausreichend vorhanden.

Offizielle Herbergen

Wie der Name schon suggeriert handelt es sich hier um Herbergen, die von der Stadt oder einer Kirchengemeinde eingerichtet und betrieben werden. Um dort unterzukommen muss man den Pilgerausweis und einen Pass oder den Personalausweis vorlegen, sowie eine Gebühr bezahlen. In Portugal liegt die in der Regel bei 5€, in Spanien bei 6€.
Die Grundausstattung ist daher auch meist spartanisch, aber ausreichend:
  • Schlafsaal mit 10-30 anderen Pilgern
  • Hochbett
  • Einwegbezüge aus Papier
  • Duschen
  • Toiletten
  • Waschbecken für Handwäsche
Der Hygienezustand ist durchgehend erstaunlich gut, wenn man bedenkt, wie wenig Geld man bezahlen muss und dass das Personal alles Ehrenamtliche sind. Es gibt sehr häufig Einrichtungen, die über das vorgenannte hinausgehen, zum Beispiel Waschmaschinen und Trockner oder eine Küchenzeile, wo man sich Essen machen kann. Verlassen sollte man sich aber nicht darauf.
In den offiziellen Herbergen herrschen ein paar strikte Regeln. So darf man hier nur eine Nacht verbringen. Einzige Ausnahme: wenn man verletzt ist.
Wer dabei erwischt wird, ein Schmutzfink zu sein und mehr Dreck als nötig verbreitet, kann nicht nur der Herberge verwiesen werden, seine Daten werden auch der nächsten Herberge mitgeteilt, die dann die Unterkunft verweigern kann.
Wer abends noch einmal ausgehen möchte, der steht bei den öffentlichen Herbergen oft nach 22 Uhr vor verschlossenen Türen.
Die Herbergen müssen meist vor 8 Uhr morgens verlassen worden sein.

Private Herbergen

Der Titel sagt es schon: diese Herbergen sind nicht von offizieller Stelle eingerichtet, sondern haben einen privaten Betreiber. Dies kann, wie in Barcelinhos, ein örtlicher Verein sein. Oder auch ein anderer Betreiber. Entsprechend sind die Preise hier höher. In der Regel bezahlt man bei einer privaten Herberge pro Nacht 10-12€. Dafür ist die Grundausstattung hier merklich höher. So findet man zusätzlich zu dem, was in öffentlichen Herbergen Standard ist, meistens auch:
  • ein Schließfach
  • "echte" Bettlaken
  • Türen mit Codes, so dass man auch spät nachts noch eintreten kann
  • Internetzugang (wobei das auch in immer mehr öffentlichen Herbergen Standard ist)
  • besser eingerichtete Küchenzeilen (deren Benutzung aber oft zusätzlich kostet)
  • Getränkeautomaten

Unterkunft bei privat

Viele Privatpersonen bieten in ihrem Zuhause eine Unterkunft für Pilger an. Dies ist in der Regel ein Zwischending zwischen Aufrechterhalten der Pilgertradition und "ein wenig Geld nebenbei". Die Tarife hier gehen, da sie nicht kontrolliert werden, natürlich auseinander, aber in der Regel kriegt man dort etwas für 10-20€, wobei bei den höherpreisigen privaten Unterkünften schon ein gemeinsames Essen eingerechnet ist.

Pensionen und Hotels

Viele der typischen Touristenunterkünfte haben spezielle Angebote für Pilger. So kann man durchaus für 25€ pro Nacht in einem echten Hotel Unterkünfte finden - natürlich solange der Vorrat reicht und daher sollte man da dann schon das Handy parat haben um schnell zu reservieren. Hier gehört zum Standard meistens auch, dass sich das Hotel um die Wäsche kümmert und für einen wäscht. Vor- und Nachteil ist natürlich, dass man nicht mit den anderen Pilgern zusammen in der Herberge ist. Beides hat sein Für und Wieder.

Sprachen

Die Rezeptionistinnen und Rezeptionisten in den offiziellen Herbergen auf dem Camino tun dies ehrenamtlich. Sie sind alle sehr nett - aber leider sprechen die wenigsten Englisch. Es empfiehlt sich daher, zumindest ein paar Brocken Portugiesisch und Spanisch zu lernen. Wer beide Sprachen nicht beherrscht, hat mit Französisch manchmal mehr Chancen als mit Englisch.
In den privaten Herbergen und in den Hotels hat man da bessere Chancen, das ist aber auch nicht garantiert.
Auf dem Land und zum Teil auch in den Städten wird Galego gesprochen. Das ist eine Mischung aus Spanisch und Portugiesisch, die tatsächlich manchmal deutlich schwieriger als "reines" Portugiesisch ist. Hier muss man sich eine Weile reinhören.

Stempel

Stempel waren das, worüber ich mir vor der Pilgerfahrt am meisten den Kopf zerbrach, was sich aber als gar kein Problem herausstellte. Um zu beweisen, dass man Pilger ist, muss man auf den letzten 100km pro Tag mindestens zwei Stempel vorweisen, als Fahrradpilger auf den letzten 200km. Ich hatte mich gefragt, ob ich jetzt jedes Mal bei Kirchen jemanden finden muss. Die Antwort ist klar: nein. Jedes Café und jedes Restaurant gibt einem einen Stempel, genauso wie die Herberge am Abend. Und das reicht schon. Also: einmal beim Frühstück oder beim Mittag lieb um ein "Sello" bitten. Am Abend kriegt man das von der Herberge ungefragt.
Viel interessanter ist die Frage, wo man "schöne" Stempel bekommt. Einige sind so attraktiv wie ein Straßenschild, andere sind kunstvoll. Es hat ein wenig was von Panini-Sammelbildchen - aber Sorgen muss man sich nicht machen, den Pilgerausweis nicht voll zu kriegen.

Wichtige Begriffe

Es gibt ein paar Begriffe, die man immer wieder hört und die man sich aneignet:
  • "Buen camino!" ist Castellano für "Guten Weg!", den Standardgruß der Pilger untereinander
  • "Bom caminho!" ist Portugiesisch für dasselbe - das hörte man eigentlich auf dem gesamten Camino Portugues, besonders, weil hier auch viele portugiesische Fahrradpilger unterwegs waren
  • "Bo camiño!" ist Galego für dasselbe - das hört man erstaunlich selten, aber man sieht es häufiger mal geschrieben.
  • "Ultreia!" ist ein sehr alter Pilgergruß und heißt so viel wie "Vorwärts! Und noch weiter!" und soll einen anspornen, wenn der Weg gerade sehr hart ist. Ist leider nur mäßig bekannt.
  • "The camino provides!" (Der Weg versorgt) - ein Ausspruch, mit dem man eines der "kleinen Wunder" kommentiert, wo das Opfer des einen, der etwas am Wegesrand liegen ließ, jemand anderem nutzt
  • "Pilgerfamilie" sind die Pilger, denen man immer wieder begegnet und die einen dadurch begleiten, unterstützen, helfen, unterhalten, zum Nachdenken anregen oder die einfach nur da sind

Packliste

Ein ungeschriebenes Gesetz scheint zu sein: wenn man über den Jakobsweg schreibt, dann muss man auch eine Packliste veröffentlichen. Einige der Listen, die ich sah, gehen sogar so weit zu behaupten, dass sie die "ultimative Packliste für Pilger" sind, oder "Packliste für echte Pilger" - was auch immer das heißen mag.
Wer alles gelesen hat, wird vermutlich wissen, was meine Haltung dazu ist: was man mitnimmt, das muss man selbst entscheiden. Jeder hat andere Bedürfnisse und braucht andere Dinge. Jeder hat andere Ziele, die er so oder so erreichen kann. Der einzige, der also eine gute Packliste zusammenstellen kann für dich, bist du.
Suche dir jemanden, der Erfahrung im Wandern hat und gehe alle Punkte gemeinsam durch. Luxus ist ok, aber Luxus sollte eine bewusste Entscheidung sein. Was "Luxus", also überflüssig war, habe ich in der Liste markiert.
Hier also meine Packliste:
  • 30 Liter Rucksack
  • Sandalen
  • 3 Merino-Unterhosen (2 hätten gereicht)
  • 2 Merino-T-Shirts
  • 1 Oberhemd (Luxus, aber die Haut bedecken war bei der Sonne manchmal gut)
  • 1 Baumwoll-T-Shirt zum Wechseln (Luxus, aber half)
  • Badehose (Luxus, habe ich nur 1x gebraucht)
  • 1 Zipper-Hose
  • 1 kurze Hose zum Wechseln für abends zum Waschen
  • 1 Regenponcho
  • 1 Kompressionsssack (nahm am meisten Platz weg und am Ende war es eh zu heiß für den Schlafsack - daher Luxus)
  • 1 Seiden-Inlay
  • 1 Isomatte (nie gebraucht, also Luxus)
  • 1 Kernseife
  • 1 Reisezahnputzset (war ideal)
  • 1 Taschenmesser
  • 2 Jakobsmuscheln (für um den Hals und für das Gepäck)
  • 1 Moleskin-Buch mit Kugelschreiber (Tagebuch - Luxus, aber Grundlage für diesen Blog)
  • 1 Bleistift, 1 Radiergummi, 1 Anspitzer (nie gebraucht, Luxus)
  • 1 Buch (Luxus)
  • 1 Verbandskit
  • Sonnencreme, Fenistil, Antibrumm, Schmerztabletten, Durchfalltabletten, Blutdrucktabletten, Tape, Bepanthen, Canesten, Hirschtalgcreme und Schutzcreme gegen das Wolflaufen (siehe unten)
  • 1 Bufftuch (Luxus, aber gab gute Dienste)
  • 1 Mütze (Sonnenschutz am Kopf ist sinnvoll, wenn nicht natürlich, dann so)
  • Sprachführer Spanisch und Portugiesisch (nicht wirklich gebraucht und schwer, also ärgerlicher Luxus)
  • Ladegerät Kamera
  • Ladegerät Handy
  • Handy
  • Pilgerausweis
  • Internationaler Impfausweis (für den Notfall)
  • Boarding-Pässe
  • Kamera (Luxus)
Insgesamt ergab das ein Gewicht von 5,5kg. Ich bin sicher, dass ich noch etwa 500 Gramm einsparen kann durch das Weglassen von unnötigen Büchern und der Isomatte. Den Kompressionssack hätte ich nur deswegen weglassen können, weil es eine Hitzewelle gab. Bei anderem Wetter wäre der wieder nützlich gewesen.
Hinweis: Medikamente in Portugal und Spanien sind sehr günstig und man kommt zwar nicht oft, aber häufig genug an Apotheken vorbei. Man kann also durchaus auch einfach die nötigen Medikamente am Weg kaufen, statt sie mitzuschleppen.

Widmung und Danksagungen

Gewidmet allen Pilgern und Helfern in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Wie bei vielen solchen Unternehmungen gibt es so viele Menschen, denen ich danken müsste, dass ich sicherlich welche vergesse. Wer sich unrechtmäßig ausgelassen fühlt, soll sich bitte melden. Aber zunächst möchte ich Lutz Hüttel danken, der mich ursprünglich auf die Idee brachte, zu pilgern. Dann Maurice Kaiser dafür, dass er mich auf den portugiesischen Weg gebracht hat.
Justin Finkelstein dafür, dass er mir seinen Laptop lieh und für mich ein altes USB-Kabel für die Kamera ausgegraben hat - und natürlich für seine Gastfreundschaft.
Simon Gründel danke ich nicht nur für die Packliste, sondern auch dafür, dass er treu jeden einzelnen Beitrag las und mir Feedback und Denkanstöße gab, womit ich die Geschichte kohärent bekam.
Struppi danke ich für den Arschtritt in Santiago und die moralische Unterstützung.
Struppi und Simon Thyßen danke ich für das Empfangskomitee am Düsseldorfer Flughafen.
Und dann danke ich allen meinen Mitpilgern und den Leuten am Wegesrand, deren Namen so vielfältig ist, dass ich die hier nicht aufzählen kann. Es gab noch deutlich mehr Begegnungen und Schicksale, als ich beschrieben habe. Ich hoffe, dass ich die richtige Auswahl traf um den Blog einigermaßen unterhaltsam zu halten aber um das, was den Weg ausmacht, deutlich zu halten.

Epilog

Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.
(Franz Kafka) 
Den Morgen in Fisterra ging ich gemütlich an. Ich hatte Zeit - in der Herberge durfte ich bis 10 Uhr bleiben. Danach frühstückte ich genüsslich in einem Café, das von zwei Deutschen betrieben wird. Crêpe mit Eis und Kirschen, dazu Chai Latte und die erste Apfelschorle seit zwei Wochen, die ich trinke, als sei es das Kostbarste von der Welt. Danach geht es in den Bus, der mich deutlich schneller als gedacht zurück nach Santiago bringt.
Die Dame in der Albergue Credencial erkennt mich wieder und gratuliert mir, dass ich es bis Fisterra geschafft habe. Sie führt mich zu meinem Bett. "Sie kennen ja schon alles, ich muss Ihnen nichts mehr erklären." - "Stimmt. Danke!"
Ich laufe in die Stadt. Auf dem Platz vor der Kathedrale laufen wieder Gruppen von Pilgern zusammen und gratulieren sich, machen Gruppenfotos. Ich sehe niemanden, den ich kenne, aber das ist in Ordnung. Ich will in das Pilgermuseum. Ob ich beweisen kann, dass ich Pilger bin, werde ich gefragt. Meinen Pass habe ich aber in der Herberge gelassen, ebenso meine Compostela. Fotos habe ich davon auch nicht. Effektiv würde ich aber nur 1,20€ sparen, also bezahle ich den vollen Preis.
Die Ausstellung ist erstaunlich gut und betrachtet Pilgern nicht als christliches oder auch nur per se religiöses, sondern als anthropologisches Phänomen. Das Hauptaugenmerk ist freilich auf dem Jakobsweg, aber andere Pilgerwege auf der ganzen Welt werden auch behandelt.
Die Stadt Santiago, so erzählt die Ausstellung, begann einfach mit einer kleinen Kultstätte, einem Mausoleum. Nachdem die Gebeine dem Apostel Jakobus zugesprochen wurden, wurde sie so genannt: "Locus Sancti Jacobi", also: "Ort des heiligen Jakob". Die ersten Pilger erreichten die Kultstätte. Man brauchte Herbergen, dann Krankenhäuser, Wirtshäuser, Brücken, Straßen. Um die Kultstätte wurde Kirchenteil um Kirchenteil herumgebaut, bis die heutige Kathedrale entstand.
Derweil verlor sich im Spanischen das "c" in "Sancti" und das "-bi" in Jakob, das "-co" wurde weicher, ein "-go". Also "Santiago", was immer noch sowohl in Castellano wie auch in Galego der Name für den Heiligen Jakob ist. Es gab hier nie eine Stadt "Santiago" ohne Pilger. Pilger erschufen nicht nur den Weg. Sie erschufen auch die Pilgerstätte, das Ziel, die Stadt, als Reaktion. Wie ein Sandkorn in einer Auster die Auster dazu bewegt, eine Perle zu bilden.
So viele Zweifel man auch haben kann ob die Herkunft der Gebeinen wirklich stimmt - der Weg ist echt. Die Pilgerschar ist echt. Und ich bin nun ein Teil dieser Tradition.
Das Museum erzählt auch davon, was sich im Laufe der Zeiten am Pilgern gewandelt hat - und was nicht. Was sich auf jeden Fall geändert hat ist: Pilger im Mittelalter haben die Jakobsmuschel, das Symbol für Jakobspilger, erst in Santiago erhalten. Sie mussten nun den langen und beschwerlichen Weg wieder zurück. Die heutigen, modernen Pilger, heften sich die Muschel bereits lange vor Santiago an und fliegen nach dem Erreichen des Ziels einfach nach Hause.
Aber die Rückkehr gehört ja auch dazu, denke ich. Wie in dem Pamphlet mit den Symbolen. Meine Pilgerfahrt ist noch nicht zu Ende. Ich muss wieder zu Hause ankommen - und das, was ich auf dem Weg gelernt habe, zu Hause anwenden. Mehr auf meine Freunde und Familie hören. Ihnen ein Freund und Begleiter auf ihrem Weg sein.
Dafür muss ich nichts verbrennen. Oder etwas beweisen. Ich muss nur im Moment sein und auch einmal beim anderen. Für die, die den Weg vor sich haben, kann ich Rat geben.
Die Idee, meine Geschichte in einem Blog aufzuschreiben, hatte ich schon sehr früh. Und das wäre bereits eine erste Konsequenz - oder ein erstes Ziel. Denjenigen, die nach mir gehen oder nicht gehen können den Weg zu zeigen. Zumindest einen Bruchteil, einen Schimmer von dem zu vermitteln, was den Weg ausmacht. Und festhalten, was mir widerfuhr. Als eine Art Opfergabe - nicht für einen Gott, sondern für den Weg und die anderen Pilger. Vielleicht nur das Gewäsch eines einzelnen Menschen. Aber wenn auch nur ein anderer sich durch die Darstellung berührt fühlt, sich dadurch bewegt fühlt, sein Glück auf dem Weg zu suchen, dann hätte ich mein Ziel erreicht.
Am nächsten Morgen fahre ich recht früh zum Flughafen und fliege nach England. In einer gemütlichen Wohnung in einem Randbezirk von London leiht mir mein Freund Justin einen Laptop. Ich lade meine Fotos hoch und fange an diesen Blog zu schreiben.
Mein Weg war einzigartig und doch einer von vielen, die Teil einer großartigen Tradition sind.
Mein Weg führte mich von Porto nach Santiago und bis ans Ende der Welt. Aber eigentlich begann mein Weg vor 15 Jahren in einem bretonischen Restaurant in Hamburg. Und er endet jetzt. Und hier. Mit diesen letzten Zeilen meiner Geschichte.
Vielleicht liest du das hier und denkst, dass du den Weg nicht gehen möchtest. Das ist in Ordnung. Wir alle müssen entscheiden was wir brauchen und was wir nicht brauchen.
Aber wenn du, irgendwann, irgendwo in deinem Herzen einen Funken des Willens hast, den Weg zu gehen, dann wisse, dass du dann bereits auf dem Weg bist. "Der Weg beginnt zu Hause", wie es heißt.
Und wenn du den Weg gehst, wisse, dass du ihn nicht alleine gehst. Du wirst begleitet werden. Von anderen Pilgern, die mit dir zusammen laufen. Die vor dir laufen. Die hinter dir laufen. Von den Anwohnern, die dich unterstützen oder dir auch nur eine Cola verkaufen. Wir, die Pilger, die vor dir liefen, trugen den Weg vor dir und gehen ein in die Masse derer, die die Jakobswege schufen, so wie die Vorfahren der Anwohner die Infrastruktur für uns und nun für dich errichteten.
Du kannst alleine gehen. Aber du wirst nicht einsam gehen. Wir alle sind der Weg.
Und auch, wenn du es jetzt vielleicht noch nicht vollständig verstehst oder begreifst: du gehst den Weg nicht nur für dich. Auch du erschaffst den Weg durch das Gehen. Auch du trägst damit die Tradition für die nächsten weiter. Und du gehst ihn auch für die, die ihn nicht gehen können oder sich auf dem Weg verloren haben oder sogar verstorben sind. Du gibst deinen Teil - und wirst mehr bekommen, als du denkst.
Also: "Nimm einfach deine Sachen und gehe los!"
Guten Weg!

Tag 16 - Der Mann am Ende der Welt (Olveira - Kap Finisterre)

Na avenida deixei lá a pele preta e a minha voz. Na avenida deixei lá a minha fala, minha opinião, a minha casa, minha solidão, joguei do alto do terceiro andar.
Auf der Straße ließ ich die schwarze Haut und meine Stimme. Auf der Straße ließ ich meine Sprache, meine Meinung, mein zu Hause, meine Einsamkeit, warf alles aus dem dritten Stock.
("A Mulher do Fim do Mundo", Elza Soares)
Vor mir liegt der Atlantische Ozean. Die Sonne blendet etwas. Irgendwo in weiter, weiter Ferne kommt Amerika. Doch hier, an diesem Kap, sieht man davon nichts. Es scheint tatsächlich, als sei hier die Welt zu Ende. Das Ende der Welt. Finis terrae. Finisterre. Was später dann in Galego zu dem Namen Fisterra wurde.
Hinter dem Leuchtturm stehen, sitzen und liegen einige Pilger, die den Ausblick genießen. Die Stimmung ist anders als in Santiago. Dort wurde gejubelt, wurden Gruppenfotos gemacht. Das hier ist aber nicht der Ort dafür, auch, wenn sich einige auf dem Kreuz vor dem Leuchtturm ablichten lassen. Dies ist der Ort um das Gefühl sacken zu lassen, am Ende angekommen zu sein. Auch hier gab es auf den letzten Metern keine gelben Pfeile mehr, aber die waren auch nicht notwendig, denn der Leuchtturm, das offizielle Ziel der Pilgerstrecke, war auch hier wieder von weitem sichtbar. Züge von Pilgern ziehen hin und wieder zurück zur Innenstadt von Fisterra. Die meisten hatten es so gemacht wie ich und ihr Gepäck dort in der Herberge gelassen. Die letzten 3km gönnten wir uns ohne Gewicht auf dem Rücken. Und schließlich erreichten wir alle den letzten Meilenstein.
Im Vordergrund der Meilenstein, im Hintergrund der Leuchtturm

Eigentlich wollte ich, Luciano zu ehren, den Bolero spielen. Aber alle Pläne, die ich für Fisterra hatte, waren jetzt hier, auf dem Felsen über dem Meer, wie weggeblasen. Auch das Verbrennen der Effigien. Wie Elvira mir bereits in Tamel gesagt hatte, stehen hier überall Schilder, die verbieten, Dinge hier anzuzünden. Und auf dem Weg zum Leuchtturm kam mehrfach die Guardia Civil vorbei, die Verstöße mit bis zu 3000€ ahndet - verständlich. Denn in der Nähe von Porto, gar nicht so weit von den Wäldern, durch die ich lief, gibt es gerade einen verheerenden Waldbrand mit bereits über 60 Toten. Und auch hier in Galizien hat die Trockenheit die angrenzenden Wälder zu einem Problem gemacht. Also lasse ich das Feuerzeug stecken. Stattdessen nehme ich mir einen Moment um über den heutigen Weg zu reflektieren.
Andere Pilger warnten am Morgen davor, dass es einen Abschnitt geben soll, wo 15km kein Café und keine Bar war. Eindringlich wurden wir gemahnt, genug Wasser bereit zu halten. Und die Warnung stimmte - aber wir hatten Glück. Denn kurz hinter der Abzweigung, wo die, die nach Muxia wollen, rechts abbiegen und die, die nach Fisterra wollen, links, tauchten wir in eine Nebelbank ein.
Den Nebel konnte man dort bereits erahnen
Nach Tagen der knallenden Sonne war das eine sehr willkommene Abwechslung. Nicht nur war es deutlich kühler und angenehmer, der Nebel fügte eine interessante Komponente hinzu. Man hörte andere Pilger lange, bevor man sie sah. Und wenn sie an einem vorbeigezogen waren, verschwanden sie wieder im Nebel.
Die Amerikaner, mit denen ich mich auf dem Weg nach Olveira angefreundet hatte, begegneten mir. Zuerst sah ich die Jungs, die gerade ein Lied dichteten auf einen anderen Pilger, den sie getroffen hatten, der an so ziemlich jede Verschwörungstheorie glaubt, die es gibt. Er ernährte sich von Pflanzen, die er am Wegesrand pflückte, und von Schnecken, die er von der Straße aufklaubte. Ich durfte die erste Strophe hören, die schon recht gut gelungen war. Das Lied basiert auf der Melodie von "Californication". Während sie weiter sangen, verschwanden sie vor mir in der Nebelwand. Die Mädels folgten hinterher. Auch sie dichteten ein Lied um den Jungs zu beweisen, dass sie das auch können. Es basiert auf der Melodie von "Sittin' on the dock at the bay" und geht um das Leben auf dem Jakobsweg. Aber auch sie wurden erst zu Schemen, dann zu Schatten und verschwanden dann.
Der Nebel machte auch die Sehenswürdigkeiten noch interessanter

Die Nebeltropfen waren angenehm auf der Haut, aber ich befürchtete, dass ich dadurch vom Kap aus keine gute Sicht auf die Sonne hätte, was schade gewesen wäre. Denn heute war Sommersonnenwende - genau zu diesem Termin wollte ich meine Pilgerfahrt beenden. Aber wie sinnvoll wäre es gewesen, wenn alles in Nebel getaucht gewesen wäre?
Glücklicherweise klarte es bereits kurz vor Cee auf, der ersten Küstenstadt auf dem Weg.
Es blieb aber angenehm kühl
Hier aß ich erst einmal etwas beim ersten Café nach der "Durststrecke" und machte mich dann durch die Innenstadt. An einer Stelle vergaß man aber Pilgerschilder anzubringen, so dass ich fast falsch gelaufen wäre. Eine Gruppe von Pilgern half mir, den richtigen Weg zu finden. Hier konnte man sich entscheiden durch die Altstadt oder an der Küste entlang zu laufen. Ich entschied mich für die Küste. Ein - sagen wir - interessanter Trampelpfad, der versteckt zwischen zwei Mauern den Hang hoch läuft, ließ meinen Knöchel sich wieder beschweren, aber ich wurde ermutigt durch die Schilder, die besagten, dass es nur noch etwa 15km sind.
Und ich mag solche versteckten Pfade
Es war gegen 16 Uhr, als ich endlich einen Pfad den Hang hinunter entdeckte, hinter dem man sehr deutlich das Kap und Finisterre sehen kann. Ich lief begeistert los - und legte mich sofort auf den Hintern, als ich in dem weichen Sand ausrutschte. Hauptsächlich war das nur Dreck, aber davon hatte ich jetzt jede Menge. Ich hielt mich an dem Gedanken fest, dass ich bald am Ziel sei und das dann nichts mehr sein würde, über das ich mir Sorgen machen müsste.
Wenigstens hatte ich eine schöne Aussicht beim Ausrutschen
Sorgen machte ich mir vielmehr darum, noch einen Herbergsplatz zu bekommen. Es war schon 16 Uhr, 17 Uhr als ich den Ortskern von Fisterra erreichte. Das war im Verhältnis zu den anderen Tagen reichlich spät, also suchte ich erst eine Unterkunft.
Fisterra ist zwar auch ein Badeort, aber mit einer ganz anderen Stimmung als Villanova. Hier gibt es einige versteckte Strände. Statt Campingplätzen gibt es viele Pensionen und Heidelandschaft. Auch die Fauna ist eine andere - an einer Wand entdeckte ich die bislang größte Echse, die ich auf der iberischen Halbinsel gesehen hatte.
Eigentlich wollte ich in der Herberge von Sonne und Mond unterkommen, die schon lange auf dem Weg geworben hatte. Von einer anderen Pilgerin erfuhr ich aber, dass die schon belegt war. Also buchte ich mich in der erstbesten privaten Herberge ein, die ich finden konnte. Sie hieß Oceanus - und das sollte dann auch der letzte Stempel in meinem Pilgerpass sein.
Beim Beziehen meines Betts hinterließ ich eine kleine Dreckspur, die ich schnell wieder entfernte. Und dann machte ich mich ohne Gepäck aber mit Stab auf den Weg zum Kap. 3km - 300 Meter aus der Stadt hinaus und 2,7km die Straße entlang.
Und nun bin ich hier.
Der Nebel hat sich extra für meine Aufnahmen verzogen gehabt. Er kam zurück, als ich das Kap verließ
Leere im Kopf. Die Tage zuvor war es klar, was zu tun war. Folge den gelben Pfeilen, schlafe, esse, folge den gelben Pfeilen weiter. Aber das war es nun. Ende. "Game over", also: "Spiel vorbei", wie es auf den T-Shirts im obligatorischen Souvenirladen zu lesen ist. Ich kaufe drei davon zusammen mit einem kleinen Rucksack und einem anderen Souvenir.
Auf dem Rückweg bemerke ich, dass ich meinen Stab irgendwo vergessen habe. Sei es drum. Ich brauche ihn nicht mehr. Ich hoffe, dass ein anderer Pilger ihn findet. Der Weg versorgt.
Mir begegnen einige meiner Bekannten in Fisterra. Simone, Emily, die Franzosen. Wir gratulieren uns und wünschen uns einen guten Heimweg.
In der Herberge dusche ich ausgiebig. Mir wurde ein Frotteehandtuch gestellt und ich genieße es, mich endlich mal wieder abrubbeln zu können, was mit meinem Mikrofaserhandtuch nicht möglich war. Wie jemand anderes schon sagte, es sind die kleinen Dinge. Als ich gerade auf meinem Bett sitze, kommt der Herbergsvater vorbei, der sich mir vorstellt. Ich frage ihn, wo man gut essen kann. Er empfiehlt mir ein Restaurant und bietet mir an, mir den Weg auf einer Karte zu zeigen. Ich sage, dass ich gleich zu ihm nach unten gehe - was ich aber nicht schaffe.
Von Olveira zum Kap Finisterre sind es etwa 37km. Plus die etwa 3km zurück in die Innenstadt sind es 40km, die ich heute gelaufen war. Die längste Strecke auf der ganzen Pilgerfahrt. Und nun fordern meine Beine ihren Tribut und versagen mir den Dienst. Ich kann von meinem Bett nicht aufstehen und liege erst einmal so da. Ich schlafe eine Runde, woraufhin es mir besser geht - aber die Rezeption ist nicht mehr besetzt und der Herbergsvater hat Feierabend gemacht.
Ich gehe also ohne Ratschlag los, kehre in ein beliebiges Restaurant ein und bestelle mein letztes Pilgermenü. Hähnchenfilet mit Pommes und Reis, dazu Salat.
Irgendwie wirkt es immer noch unwirklich. Das ist es jetzt. Plötzlich ist es vorbei. Morgen würde ich mit dem Bus zurück nach Santiago fahren und den Tag darauf nach London fliegen um Freunde zu besuchen. Mein Alltag, meine Freunde zu Hause, meine kleine Blase in der Welt waren durch mein Handy, das ich am Kap wieder einschaltete, wieder in greifbare Nähe gerückt. Ich rufe Struppi an und frage, ob er mich abholt. Er meint nein, ich solle es bis zum Ende schaffen. Ich sagte, dass ich das habe. Er gratuliert mir und wir reden darüber, wie es war.
Wie erzählt man das? Wie kann man all das vermitteln?
Was diese viele kleinen Begebenheiten und Begegnungen und Geheimnisse und Offenbarungen mit einem anstellen, aus einem machen?
Wie der Weg versorgt? Wie es ist, sich in die Hände dieser Tradition zu begeben?
Ich versuche es zu erzählen, aber dafür ist zu viel passiert. Dafür ist es zu sehr eine sehr eigene Erfahrung. Und so vertröste ich ihn etwas. Genauso wie andere Freunde, die mich nach einem Bericht fragen. Der kommt, sage ich. Der kommt.

Montag, 17. Juli 2017

Tag 15 - Die Hilfe der Anderen (Negreira - Olveira)

Wer nicht im Augenblicke hilft, scheint mir nie zu helfen, wer nicht im Augenblicke Rat gibt, nie zu raten.
(Goethe) 
Es ist noch sehr dunkel als wir weiterziehen. Das ist auf der einen Seite sehr hübsch, Mond und Venus leuchten am Himmel um die Wette. Aber es ist zu dunkel für mich um einen Wegweiser zu sehen und so biege ich falsch ab. Andrea hat aber seine Stirnlampe auf und ruft mich zurück. Ich laufe mit den Italienern zusammen - langsam dämmert es und man kann jetzt auch ohne Lampe die Pfeile wieder erkennen.
Das einzige halbwegs schöne Bild, das den pastellfarbigen Himmel einfängt

Derweil unterhalte ich mich mit Marco über dies und das. Er ist bei den Pfadfindern und sein Bruder gerade in Australien. Während wir uns über Kängurus und Koalas unterhalten, erreichen wir eine Quelle, an der wir kurz Rast machen um unsere Wasserflaschen aufzufüllen. Gerade als wir wieder gehen wollen, kommt ein anderer Pilger den Weg entlang, grüßt kurz mit einem "Buen Camino", stutzt und schaut mich dann erkennend an. Es ist Joost, der Niederländer, den ich häufiger in Portugal gesehen hatte! Er ist hocherfreut mich zu sehen, er hatte von anderen gehört, dass ich verletzt war und hatte befürchtet, dass ich abbrechen musste. Aber hier war ich sogar auf dem Weg nach Fisterra. Er setzt sich und wir frühstücken zusammen. Endlich verbrauche ich auch die Orange, die ich auf dem Espiritual bekam.
Joost erzählt mir, dass Nanette leider verletzt ist und daher derzeit im Taxi hinterher fahren muss. Wir laufen zusammen weiter und unterhalten uns über erneuerbare Energien und neue Geschäfte, über Spiritualität und Tod. Ich erzähle ihm die Geschichte mit dem großen Gleichmacher, nachdem er sagte, dass er ein Kunstwerk sah mit dem Titel "Danse Macabre" (Totentanz), wo jemand Kükenskelette, die hinter einer Wand gefunden wurden, ausgestellt hatte.
Während wir laufen fährt Nanette im Taxi an uns vorbei. Begeistert zeigt er auf mich. Wir treffen auf eine weitere Niederländerin und Emily, eine Pilgerin aus Cork in Irland. Die Gespräche drehen sich um britischen und irischen Humor, bis sie wieder an mir weiter vorbei ziehen und ich wieder alleine laufe.
Eine weitere Gruppe, auf die ich treffe, besteht aus zwei Amerikanerinnen und zwei Deutschen. Eine der Amerikanerinnen sagt, dass sie aus Kansas City kommt und sie ist entzückt, dass ich weiß, dass es zwei Städte mit dem Namen gibt. Ich sage, dass ich das weiß, weil ich gelernt habe, was ein Kansas City Shuffle ist, was sie noch mehr beeindruckt.
Ein Kansas City Shuffle ist ein Betrug, bei dem der Betrogene zurecht vermutet, dass er betrogen wird, ihm dieser Glaube auch gelassen wird - aber er getäuscht wird in der Art, wie genau der Betrug funktioniert. Also: er liegt richtig darin zu vermuten, dass er betrogen wird, aber komplett falsch in der Vermutung, wie der Betrug aussieht. Und das ist von den Betrügern die ganze Zeit so geplant. Daher auch der Name Kansas City Shuffle, also "Kansas-City-Mischen". Man glaubt, dass man in Kansas City ist. Das stimmt auch - es ist nur das andere Kansas City.
Die Amerikanerin ist jedenfalls aus dem größeren und bedeutenderen Kansas City in Missouri. Kansas City in Kansas ist auf der anderen Seite des Flusses Missouri und ist eher bedeutungslos.
Wir sprechen über den Film "Lucky Number Slevin", in dem es um einen Kansas City Shuffle geht und erreichen sehr bald das Ende der Tagesetappe für diese Gruppe an einer kleinen Herberge. Ich trinke mir dort aber nur meinen Eistee und ziehe weiter - allerdings ohne auf Klo zu gehen.
Das bereue ich etwa eine Stunde später, als ich durch ein kleines Bauerndorf ziehe. Im Wald hätte ich mich einfach hinter einen Baum gehockt, aber in einem besiedelten Gebiet will ich das nicht. Allerdings scheint es in der Siedlung keine öffentlichen Toiletten zu geben. Ich sehe als Gebäude mit Kundenbetrieb nur einen Friseursalon und der ist geschlossen. Verzweifelt entschließe ich mich, zu fragen. Die Tür beim nächstbesten Haus ist offen. Der Haushund rennt zwar raus und kläfft mich an, läuft aber nur bis zur Gartenpforte. Ihm folgt eine Dame, die ich auf Castellano frage, ob ich bitte ihr Klo benutzen dürfte. Die Antwort kommt ebenfalls auf Castellano: "Tut mir leid, der Herr, ich arbeite hier nur, ich bin das Hausmädchen, die Herrschaften sind leider nicht da und ich darf niemanden hineinlassen."
Gut. Nächster Versuch. Vor einem weiteren Haus, wieder mit offener Tür, sitzt ein altes Ehepaar. Dieselbe Frage. "HÄ?!? WAS WOLLEN SIE?!?" Das geht ja gut los, denke ich. Ich wiederhole die Frage, diesmal etwas deutlicher. "Wir haben kein Badezimmer! Gehen Sie woanders hin!" Na toll. Danke.
Aus dem dritten Haus kommt eine junge Frau. Aller guten Dinge sind drei, denke ich. "Könnte ich bitte Ihr Klo benutzen?" - "Aber selbstverständlich, kommen Sie mit!" Dankbar und erleichtert folge ich ihr ins Badezimmer. Aber nur, bis ich das Klo sehe - das ist nämlich leider verstopft und bis oben voll.
Egal. In der Not kann man es sich halt nicht aussuchen und ich verrichte mein Geschäft. Danach wage ich zu spülen - und siehe da... plötzlich löst sich was auch immer die Rohre verstopft hatte und das Klo ist wieder frei. Wenigstens hat die junge Frau für ihre Freundlichkeit eine Gegenleistung bekommen. Ich benetze mein Kopftuch mit Wasser, bedanke mich und gehe.
Die Mittagssonne und -hitze machen mir wieder zu schaffen, da es auf dem hügeligen Weg wieder kaum Schatten gibt. Ich treffe Simone, eine brasilianische Pilgerin, mit der ich mein Portugiesisch wieder etwas üben kann. Wir unterhalten uns über die Unterschiede zwischen Rio und São Paulo.
Eines der wenigen schattigen Stellen
Als Simone weiterzieht und ich auf vier Amerikaner treffe, mit denen ich zusammen über Trump, Anwälte und die katholische Kirche Witze mache, bin ich schließlich ziemlich dehydriert. Sie bestehen darauf, dass ich beim nächsten Café, noch vor unserem gemeinsamen Tagesziel, einkehre und was trinke, während sie vorlaufen. Ich sage, dass ich fürchte, dass ich in Olveira keinen Schlafplatz mehr bekomme. Sie erzählen mir, dass sie dort sich in einer privaten Herberge eingebucht haben und sie mir einen Platz reservieren werden. Ich soll hier genug trinken und dann einfach nachkommen.
In Olveira winkt mir auch schon einer der Amerikaner zu - das mit der Reservierung hat funktioniert. Nicht nur das, die Herberge hat direkt daneben ein Restaurant mit Pilgermenüs und einer Klimaanlage, die nach der Hitze ein Segen ist.
Einer der Kellner ist ursprünglich aus Liechtenstein und spricht daher Deutsch. Ich bestelle ein Steak bei ihm. Das, was dann ankommt, hat aber eher Ähnlichkeit mit einer halben Kuh. Es ist sehr lecker aber so sättigend, dass ich nicht alles verdrücken kann. Den Vorschlag, dass er mir das Fleisch für den Abend zurücklegen kann beantworte ich mit: "Danach esse ich drei Tage nichts mehr!" Er bekommt 1,50€ Trinkgeld und fragt zweimal nach, ob ich das ernst meine und ob das wirklich für ihn ist. Anscheinend ist das mit dem Trinkgeld in den Reiseführern falsch ausgewiesen.
Ich bringe den Amerikanern eines der Spiele bei, die ich auf Liverollenspielen gerne mit Leuten in Tavernen spiele, Bärenjagd. Die Idee ist, dass man mit fünf Würfeln verschiedene Würfe macht und dann immer sagt, wie viele "Höhlen" und wie viele "Bären" man sieht. Die anderen müssen das System dahinter herauskriegen. Die Mädchen in der Gruppe finden es zuerst raus, was die beiden Jungs fast in den Wahnsinn treibt. Simone, die Portugiesin, gesellt sich auch dazu, gibt aber schnell auf.
Später am Abend sehe ich auch Andrea, Marco und José wieder, als sie im Restaurant essen und Makao spielen. Sie wollen nicht nach Fisterra, sondern nach Muxia, daher werde ich sie wohl am nächsten Tag nicht wiedersehen.
Ich nutze die Zeit um mir über die Pilgergemeinschaft Gedanken zu machen. Dem Stock, den Menschen, die uns helfen. Dazu gehören nicht nur andere Pilger, sondern auch die Menschen, denen wir auf dem Weg begegnen und die uns mit Rat oder Tat zur Seite stehen. Wie heute die junge Frau oder wie die Amerikaner, als ich am dehydrieren war.
Nur noch ein Tag - morgen ist die Pilgerfahrt endgültig vorüber. Als Ersatz für das Bild von Hamid schreibe ich einen Zettel mit Symbolen und Sätzen, die meine Körperdismorphie symbolisieren. Das will ich verbrennen - oder zumindest auf dem Weg zurücklassen. Bloß wie? Das ist ein Problem von morgen.

Mittwoch, 12. Juli 2017

Tag 14 - Ein neuer Anfang (Santiago de Compostela - Negreira)

Ich und mein Holz, ich und mein Holz. Holzi, Holzi, Holz.
 ("Holz", 257ers)
Mein Stock ist weg! Die Gehhilfe, die mir Pablo und Manuel im Wald zwischen Redondela und Pontevedra ausgesucht hatten und der mir geholfen hatte, bis hierhin durchzuhalten, hatte ich am Vorabend in einen Köcher vor der Tür gestellt, wo alle Wanderstäbe untergebracht werden sollen. Der Ständer wurde von der Hospitaleira reingeholt für die Nacht - aber mein Stock war am Morgen nicht mehr dabei.
Enttäuscht ziehe ich ohne los. Irgendwie passt das natürlich. In dem Pamphlet mit den Pilgersymbolen stand der Stock für die Menschen, die einem geholfen haben. Also auch die Pilgerfamilie - die Pilger, denen man immer wieder begegnet und die man kennen lernt - mit denen man Erlebnisse geteilt hat und die einem geholfen haben.
Ich war jetzt nicht mehr auf dem offiziellen Jakobsweg, sondern auf dem Camino nach Fisterra. Viel würde sich nicht ändern. Auch hier gab es offizielle Herbergen. Auch dieser Weg wird durch Jakobsmuscheln und gelbe Pfeile markiert sein. Aber viele von den Menschen, die ich kennengelernt habe, würde ich nicht mehr treffen. Josie, Ellie, Johann und Andreas ging die Zeit aus und sie haben daher den Plan, nach Fisterra zu gehen, beerdigt. Nicholas hatte es nicht vor, genauso wenig wie Mani, Markus und Luciano.
Ich wander durch das nächtliche Santiago und hoffe, dass mein Stab wenigstens jemandem hilft, der ihn braucht - statt einfach im Müll gelandet zu sein.
Dies war der Platz, wo ich tags zuvor die anderen traf und im Durchgang der Dudelsackspieler stand
Ich bin nicht der einzige, der unterwegs ist - ein ganzer Strom von Pilgern zieht durch die Straßen, zu dem Weg nach Fisterra. Das war eines der Sachen, die ich befürchtete. Nach Fisterra bzw. dem Kap von Finisterre ziehen auch viele Pilger von allen anderen Jakobswegen. Wird es damit eng bei den Herbergen? Muss ich vielleicht sogar schon im Dunkeln los, um noch einen Platz zu ergattern?
Nach einer Weile verteilt sich die Pilgerschar aber wieder und ich kann eine Zeit alleine laufen. Es geht wieder bergauf und von einer Anhöhe kann man noch ein vorläufig letztes Mal auf Santiago blicken.
Die Kathedrale ist deutlich erkennbar
Der steile Anstieg macht meinem Fußgelenk wieder zu schaffen. Ich sammle einen Stock am Wegesrand auf und stabilisiere damit wieder das Gelenk, aber die Gehhilfe ist nicht optimal. Auch wegen des unebenen Wegs ist es sehr beschwerlich und ich habe wieder Schmerzen.
Dafür sieht der Wald gut aus
Nach gefühlt einer Ewigkeit finde ich ein Café mit WC, wo ich frühstücken und das Gelenk versorgen kann. Gerade als ich gehen will, kommen Andrea, José und Marco. Ich freue mich, die drei wiederzusehen - also ist doch nicht meine ganze Pilgerfamilie fort.
In einem weiteren Abschnitt durch einen Eukalyptuswald sind Forstarbeiter gerade dabei, einen Teil des Waldes zu roden. Rechts am Wegesrand liegt ein sehr junger Eukalyptusstamm, der dabei bereits kurz über den Wurzeln abgesägt wurde. Der Stamm ist sehr gerade, lang und hat einen optimalen Durchmesser zum greifen. Nur die Baumkrone ist noch dran. Ich will gerade fragen, als die Forstarbeiter mich bemerken und selbst auf den Gedanken kommen. Über den Lärm der Kettensäge und unter deren Gehörschutz können wir kaum miteinander reden, das brauchen wir aber auch nicht, die Zeichensprache ist klar. "Sollen wir den kurz für dich durchsägen?" - "Das wäre prima!" - "Wo? Hier?" - "Ja, bitte! Danke!" Der Forstarbeiter schneidet die Baumkrone ab und ich habe einen 2 Meter langen und glatten Stab, der perfekt in der Hand liegt. Einzig das Gewicht macht mir etwas Sorgen, er ist recht schwer. Aber insgesamt ist es ein sehr guter Ersatz für meine alte Gehhilfe. Und besser abstützen kann ich mich auch, so dass es meinem Gelenk bald wieder besser geht.
Das ist auch wichtig, denn es geht steil hoch über einen weiteren Pass. Alle ächzen beim Anstieg. An einer Wasserquelle tränke ich mein Bufftuch mit Wasser um es mir aufzusetzen - es wird nicht lange nass bleiben. Ich halte einen spanischen Pilger davon ab, von der Quelle zu trinken und deute auf das Zeichen, dass dieses Wasser als nicht gesichert ausweist. Ich gebe ihm stattdessen von meinem Wasser ab. Als wir uns am nächsten Café wiedersehen, beschwert er sich darüber, dass die Mücken ihn sehr piesacken. Ich gebe ihm mein Insektenabwehrmittel. Er bedankt sich auf Castellano: "Danke, mein Freund!" Ich will schon sagen: "Auf dem Camino sind wir alle Freunde!" aber stutze: warum nur da? War da nicht was?
Als ich das Café verlasse, holen mich Andrea, José und Marco ein und wir laufen zusammen weiter. Marco erzählt mir, dass er auch mal Kampfsport gemacht hat, aber seine Mutter nicht wollte, dass er weitermacht, da er sich mal beim Training verletzt hat. Nun will er im September mit Parkour anfangen. Ich frage, warum er erst dann anfangen will. Er sagt, vorher gäbe es kein Training in der Halle. Ich sage ihm, dass er mit den richtigen Leuten sich sofort treffen kann und verspreche, ihm am Abend Kontakte zu besorgen. Er schaut mich ungläubig an. "Du kennst Parkour?" - "Hihi, ja, ich weiß, ich sehe nicht so aus..."
Bislang war das Wetter besser als gedacht, aber langsam kommt die Mittagshitze und erdrückt uns. Marco kann pro Atemzug nur ein Wort herauspressen, so sehr müssen wir hecheln.
Dafür gab es aber auch wieder eine beeindruckend alte und beeindruckend schöne Brücke
Marco und ich fantasieren zusammen, was wir machen, wenn wir angekommen sind. Eiskalte Duschen, erst einmal literweise etwas trinken, vielleicht ein Eis. Wir freuen uns schon, als wir Negreira erreichen - Andrea versetzt uns einen Dämpfer, als er erklärt, dass sich die offizielle Herberge auf der gegenüberliegenden Seite der Stadt, schon am Ortsausgang befindet.
Negreira macht tatsächlich den Eindruck eines recht guten Orts für Pilger. Wir kommen an Apotheken, Supermärkten und Restaurants mit Pilgermenüs vorbei. Ein paar private Herbergen bieten ihre Dienste an.
Die Pfeile leiten uns weiter und tatsächlich wieder aus der Stadt heraus, was man deutlich am alten Stadttor erkennt.
Einziger Trost: die Herberge ist angeblich von dort nicht weit.
Die Herberge ist vom Stadttor tatsächlich nicht weit, dafür aber hoch. Wir müssen wieder den Berg bei drückender Hitze anlaufen. Als wir die Herberge erreichen wedelt mir die Hospitaleira lachend Luft zu, weil ich kaum sprechen kann. Nach dem Einchecken plündern wir den Getränkeautomaten und ich kippe Eistee in mich hinein, bis ich wieder klar denken kann.
Marco ist nun doch wegen der Parkour-Kontakte neugierig - ich vertröste ihn auf nach dem Duschen und Wäsche waschen. Ich schalte mein Handy ein, denn ich hatte entschieden, dass Pilgerbrüdern helfen als Notfall zählt. Ich frage meine Parkour-Kontakte aus Deutschland und Italien und mache schnell eine Gruppe und zwei Ansprechpartner für Bologna ausfindig. Ich schicke sie Marco zu. Zusammen mit José schaut er sich die Webseite und die Kontakte an.
Als Gegenleistung bitte ich die beiden, mir beim Dekorieren von meinem neuen Stab zu helfen, damit niemand noch einmal auf den Gedanken kommt, dass es sich um Müll handelt. Sie willigen gerne ein. Als sie in die Stadt zum Essen und Einkaufen gehen, gehe ich nicht mit. Ich habe zwar etwas Hunger, aber nicht so viel dass ich den Berg noch einmal hochsteigen möchte. Die Betten sind keine Hochbetten, dafür aber im Dachstuhl. Es ist unerträglich warm und ich will mich einfach nicht bewegen. Punkt. Ich bitte die Jungen, mir ein Baguette vom Supermarkt mitzubringen und kümmere mich lieber um mein Tagebuch und um meinen Schlaf.
Ins Tagebuch schreibe ich Gedanken dazu, was ich denn jetzt eigentlich in Fisterra verbrennen möchte. Es war ja jetzt schon viel im Zweifel. Das Bild von Hamid will ich dort nicht verbrennen, das steht fest. Das Symbol für das gemeinsame Projekt mit Malte? Schon eher. Will ich die Visitenkarte verbrennen, die mir Struppi mitgegeben hatte, von einer gemeinsamen Bekanntschaft? Für ihn würde ich es tun. Aber das würde ich eher mit ihm zusammen machen. Sollte ich nicht eher ein Symbol für meine Körperdismorphie bauen und das verbrennen?
Ich schlafe eine Runde, werde aber von ein paar Franzosen geweckt. Ich weise sie höflich aber bestimmt auf französisch darauf hin, dass ich gerne schlafen würde und sie bitte leise sein mögen. Sie entschuldigen sich und gehen nach unten, ich kann aber nicht weiterschlafen, also geselle ich mich zu ihnen dazu und schließe Frieden mit ihnen. Sie sind bunt durchgewürfelt - ein junger Bretone, den ich auf 18 schätze, eine ältere Dame, ein älterer Herr und noch eine weitere Pilgerin etwa in meinem Alter. Wir unterhalten uns darüber, wie wir gelaufen sind und welche Erfahrungen wir gemacht haben.
Der Bretone ist ausnehmend hübsch, aber ich bemerke, dass ich nicht dasselbe Minderwertigkeitsgefühl habe wie sonst, wenn ich attraktiven Menschen gegenüber sitze - das mit der Körperdismorphie scheint tatsächlich abzunehmen. So kann ich mich auch ganz auf das konzentrieren, was er sagt - die Konzentration brauche ich auch, denn sein Dialekt ist sehr schwer zu verstehen für mich.
Später kommen die Italiener vom Supermarkt zurück und geben mir mein Baguette. Ich frage sie, wie viel Geld sie bekommen und die Jungen antworten "Nichts, das geht auf uns." - wohl als Dankeschön für die Parkour-Kontakte. Andrea meint schmunzelnd, das nächste Mal soll ich sie bitten, Champagner mitzubringen.
Wir holen das nach, wozu wir in Pontevedra nicht mehr gekommen waren und spielen Makao. José gewinnt beide Partien und ich komme bei beiden auf den zweiten Platz. Danach machen wir uns an den Stab. José schnitzt mit meinem Taschenmesser eine Jakobsmuschel auf den oberen Teil. Das Endresultat sieht aber eher wie eine aufgehende Sonne auf. Das gefällt mir eigentlich noch besser, denn in dem Buch Shambhala geht es um die große östliche Sonne, also die aufgehende Sonne, die Qualität, die man im Leben anderen entgegen bringen soll.
Ich finde, als Sonne ist es sehr gut getroffen
Marco tobt sich derweil mit meinem blauen Tintenschreiber am unteren Teil des Stabes aus und malt, was ihm in den Sinn kommt. Die erste Figur ist Mr. Krabs aus Spongebob, dann eine Triskele. Ich weiß, dass die beiden sich in Santiago Halsketten mit der Triskele besorgt haben und denke schon, dass sie sich für die Kelten interessieren, als Marco sagt: "Das ist ein Symbol aus Teenwolf!" Ich schmunzle: "Ja, ok, aber die haben sich das nicht ausgedacht."
Es ist ja trotzdem passend
Er malt auch einen Pfeil mit dem Vermerk "Santiago-Pfeil", "Hola!", also das spanische Wort für "Hallo!", "Schach" und "Makao", sowie seinen Lieblingsbegriff vom Pilgerweg: "Menu del peregrino", also "Pilgermenü". Er malt auch einen Kackhaufen ohne wirklich sagen zu können, warum. Es stört mich nicht, ich musste ja mit sowas rechnen, wenn ich einen 14jährigen bitte, einfach irgendwas zu malen.
Ist doch ansonsten ganz gut getroffen, oder?
Während die beiden ihrer Kreativität freien Lauf lassen kommen immer wieder andere Pilger und bestaunen den Stab. "Der ist perfekt... wo hast du den her?" Ich erzähle ihnen die Geschichte mit den Förstern. "Ist der nicht zu groß?" - "Nein, für das Kämpfen ideal..."
Das war ein Stichwort. Marco erzählt mir, dass er beim Kungfu auch Waffentraining hatte. Nachdem die beiden fertig mit dem Dekorieren sind, kämpfen wir zum Spaß noch gemeinsam mit dem Stab und ein paar Stöcken, die wir in der Nähe finden. In dieser Disziplin ist Marco deutlich fitter als José.
In der Nacht decken wir uns nicht zu. Es ist unerträglich warm und die Französin in meinem Alter geht gar ganz nach draußen und übernachtet im Garten auf einer Isomatte, da es ihr innen zu warm ist.
Zum Glück hat José herausbekommen, wie man die Fenster bei uns im Schlafsaal dauerhaft auf Kipp stellt, der Mechanismus war etwas komplizierter. Mit dem gelegentlichen Windzug kann ich einigermaßen einschlafen.

Dienstag, 11. Juli 2017

Tag 13 - Führe mich nicht in Versuchung (Teo - Santiago de Compostela)

Country roads, take me home to the place I belong.
Landstraßen, bringt mich nach Hause zu dem Ort, wo ich hingehöre.
("Country roads", John Denver)
"Magst du Country?" fragt mich Luciano ,als wir gemeinsam die letzten 12km zur Kathedrale von Santiago laufen. Dem offiziellen Ziel des Jakobswegs. Er hatte mir erzählt, dass er, als er das erste Mal pilgerte, den Bolero gespielt hatte, als er nach Santiago einlief. Was sich wie ein Triumphmarsch anfühlte. Leider hätte er den aber nicht mehr auf seinem Handy. Also laufen wir durch die Vororte und hören dabei "Country Roads". Es fühlt sich dennoch erstaunlich passend an.
So sah es nicht mehr lange aus.
Die Meilensteine mit der Jakobsmuschel am Wegesrand zählten immer weiter runter. Nur noch 8, nur noch 6km. Aufgeregt deute ich auf die Straßenschilder, die nicht mehr das Wappen von Teo zeigten, sondern das Stadtwappen von Santiago de Compostela. Auch die Gullideckel zeigten es. Luciano schüttelt verständnislos den Kopf. Ein paar Dinge versteht er an mir nicht. Das mit den Sandalen, dass ich auch heute einen Liter Eistee auf einen Schlag trinke - und wie ich so begeistert über einen Gullideckel sein kann.
Dafür spielt er den stereotypischen Italiener und schwärmt mir von Frauen vor. "Du warst wieder so früh schlafen, da hast du Susann verpasst." - "Oh, ich kenne Susann. Du meinst die Dänin?" - "Ja. Was für eine Frau... Schätze mal, wie alt sie ist?" - "Puh. Darüber haben wir nie gesprochen. Keine Ahnung. Ich würde sagen... 45?"
Luciano ist ein wenig enttäuscht, denn meine Schätzung ist fast richtig - Susann ist 46.
Schließlich erreichen wir Santiago und die Altstadt. Hier sehe ich keine gelben Pfeile mehr, die den Weg deuten, die sind aber auch nicht mehr notwendig, denn die Kathedrale ragt stolz weit über die Häuser. Im Nu sind wir auf dem Vorplatz der Kathedrale, wo viele weitere Pilger Siegerfotos schießen und sich in die Arme fallen. Ich bitte Luciano auch von mir ein Foto zu machen.
Hier ist es, mit Stock, Muschel und allem drum herum - vor dem Baugerüst vor der Kathedrale
Auf dem Weg sah ich einen Wegweiser, der zum Pilgerbüro zeigt, doch Luciano geht mit mir woanders hin, wo er beim ersten Mal seine Compostela bekommen hatte. Das Büro ist aber umgezogen und nach einer Weile herumirren und zweimal fragen sind wir an dem jetzigen Büro angekommen. Erwartungsgemäß ist dort eine lange Schlange. Luciano sagt, dass er morgen seine Compostela abholt, wünscht mir alles Gute und geht. In der Schlange treffe ich die beiden Japanerinnen wieder, diese sind aber lange vor mir dran. Da wo ich stehe, ist ein genervter Japaner. Genervt, weil der Portugiese hinter ihm sich immer umdreht um mit den Pilgern hinter ihm zu sprechen und ihn dabei immer anstupst. Und weil er denkt, dass ich mich vordrängeln möchte, dabei unterhalte ich mich nur angeregt mit zwei Mexikanern vor ihm, die auch Informatiker sind und für die das mit dem Jakobsweg eine sehr spontane Idee war. "3 Wochen bevor wir liefen wussten wir das noch nicht."
Ich warte etwa eine halbe Stunde. Schließlich bin ich der letzte an der Haltelinie, auf dem Bildschirm erscheint die Aufforderung, an Schalter 4 zu treten.
Ich habe viele Geschichten gehört vom Pilgerbüro. Einige berichteten von verknöcherten Typen, die den Pilgerausweis haarklein überprüfen und nachfragen. Oder ungelernte Kräfte, die erst einmal alles ablehnen. Vor mir sitzt aber eine sehr freundliche und vergnügte Schreiberin, die meinen Pilgerausweis entgegennimmt, ausfächert, anerkennend einen beeindruckten Gesichtsausdruck macht und ihn abstempelt. Pilgerfahrt beendet. In einer Liste soll ich mich eintragen und auch ankreuzen, warum ich gepilgert bin. Ich kreuze "spirituelle Gründe" an und bekomme meine Pilgerurkunde auf Latein ausgefüllt. Ich bemerke beeindruckt, dass sie auf Anhieb und ohne viel Nachdenken sofort die lateinische Version meines Namens kennt, als sie ihn einträgt. Sie zwinkert mir zu: "Ich bin sehr schlau!"
Und das ist sie. Die Pilgerurkunde, die sogenannte Compostela, die beweist, dass ich gelaufen bin
Schon ist es vorbei. Ich kaufe im angrenzenden Souvenirshop eine Röhre, damit die Dokumente nicht gleich wieder verknicken - zum stolzen Preis von 5€. Schon fast draußen bemerke ich, dass ich die Distanzurkunde gar nicht bezahlt hatte, die beurkundet, wie viel ich denn jetzt gelaufen bin. Ich will wieder zurück in den Raum und werde von einem freiwilligen Helfer aufgehalten. Ich erkläre ihm die Situation und er nimmt die 3€ für mich entgegen. "Danke für Ihre Ehrlichkeit!" Und schon bin ich draußen. Und jetzt?
Ich könnte zurück zu dem Kathedralenvorplatz, wo sich eine der beiden offiziellen Pilgerherbergen befindet und wo über 200 Pilger Platz haben - oder über 200 Schnarcher, wenn man so will. Aber auf dem Vorplatz ruft mich jemand - Mani und Markus sitzen auf dem Boden. Wir gratulieren uns gegenseitig und sie erzählen mir, dass sie in einer privaten Herberge in der Nähe vom Busbahnhof unterkommen und laden mich ein, einfach mitzukommen, sie würden ein Taxi dort hin nehmen.
Die Idee war gut. Private Herbergen sind zwar deutlich teurer, haben aber meist nicht die Papierbettwäsche, die eh nie richtig sitzt, sondern echte Laken. Es gibt hier auch Schließfächer, so dass ich meine Wertsachen wegschließen kann. Wir gehen zunächst wieder zu Fuß in die Stadt und trinken uns was in einem Café. Für die beiden ist der Camino hier vorbei. Sie wollen nicht zum Kap Finisterre und sagen, dass es die nächsten Tage noch einmal heiß werden sollen. Richtig heiß. Nachdenklich laufe ich alleine durch die Stadt. Das Pilgermuseum hat leider geschlossen, aber vor dem Museum unterhalten sich zwei Deutsche, die auch bestätigen, dass der Weg noch strapaziös ist und das Wetter sehr unerträglich werden soll.
Auch die Touristeninformation hilft nicht wirklich. Die weist mich darauf hin, dass für den Dienstag und den Mittwoch ein Streik der Busfahrer angedroht wurde. Es ist Sonntag, das würde bedeuten, genau an dem Tag, an dem ich in Fisterra ankäme, könnte ich nicht zurück nach Santiago, ich müsste also in Fisterra zumindest eine Nacht ausharren. "Ab Donnerstag fährt aber alles wieder" beruhigt mich die Dame. Aber das würde bedeuten, dass, wenn ich Dienstag abbrechen müsste, es keinen guten Weg zurück nach Santiago gäbe.
Draußen helfe ich einer Britin und zeige ihr die offene Touristeninformation, nachdem sie verzweifelt feststellen musste, dass alle anderen geschlossen haben. Dann gehe ich etwas essen und treffe dabei Ulli wieder, den Begleiter von Susann. Beim Essen gesteht er mir, dass er mich angelogen hatte. Er wohnt gar nicht in Frankfurt wie immer behauptet, sondern auf Neuseeland. Wir unterhalten uns über die Maori und wie die alte Idee des Mana leider von vielen pervertiert wird und als Grund für Müßiggang verwendet wird.
Nach dem Essen begleitet er mich zur Kathedrale. Dort hake ich zwei Punkte der Pilgertraditionen ab. Ich umarme die goldene Altarsstatue des Jakob, dem man sich von hinten über eine Treppe nähern darf. Und ich sehe mir das legendäre Grab an, den ältesten Teil der Kathedrale. Es findet gerade ein Gottesdienst statt, aber kein Pilgergottesdienst. Dennoch startet der Pfarrer auf spanisch mit den Worten: "Liebe Brüder und Schwestern, liebe Pilger!" Ich gehe dennoch vorzeitig und warte auf die Abendmesse. Ich setze mich an einer Treppe in den Schatten, in der Nähe von einem Straßenmusiker, der auf einem Dudelsack alte keltische Weisen spielt. Als ich aufstehe und um die Ecke laufe, begegne ich Josie, Ellie, Andreas und Johann wieder. Und Nicholas, meinem Barfußläuferfreund, der mich freudestrahlend umarmt und mir gratuliert, es geschafft zu haben. Er deutet auf seine Füße. "Schau mal, ich habe auf dem Weg neue Schuhe gefunden!" Tatsächlich trägt er schwarze Schuhe, die ich noch nie bei ihm gesehen hatte. Ich grinse: "Der Jakobsweg versorgt!" - "Ja!" grinst er zurück.
Mit Andreas und den anderen unterhalten wir uns etwas darüber. Andreas hat eine sehr esoterische Ansicht von dem Konzept. "Du brauchst gutes Karma, aber dann passieren Dinge!" Er erzählt, wie ihm seine Sonnenbrille, die er auf dem Weg verloren hatte, plötzlich von anderen Pilgern zurückgegeben wurde, die diese auf dem Weg entdeckt hatten. Meine Interpretation davon behalte ich für mich - es ist in Ordnung, wenn er hier eine höhere Macht annimmt, obwohl ich diese Annahme nicht brauche. Eventuell braucht er sie. Und es geht hier ja auch nicht um Kosmologie.
Ich gehe in die Abendmesse. Da es Corpus Christi ist, ist es nicht der "reguläre" Pilgergottesdienst und ich verstehe genug von der spanischen Predigt um sie nicht zu mögen. Alle anderen Teile des Jakobswegs waren eklektisch. Es war egal, welcher Religion oder Überzeugung man angehörte, ob man Atheist oder Heide war. Wir alle wurden durch den Weg vereint. In dem Sermon war davon keine Spur mehr zu finden, hier war Jesus Christus der einzige Weg der Erleuchtung. Ich höre sie mir dennoch mit Melanie und Markus aus Berlin zu Ende an, die ich auf dem Weg kennengelernt hatte. Kurz vor der Messe traf ich sie draußen - leider achten Sicherheitsleute darauf, dass man die Kathedrale wegen Terrorgefahr nur von einem Eingang aus betritt und so mussten wir auf die andere Seite laufen - da das Gebäude aber riesig ist, laufe ich mit den beiden einmal in einem großen Kreis. Dennoch schaffen wir es noch rechtzeitig.
Etwas enttäuscht mache ich noch ein paar Bilder von dem Innenaufbau, insbesondere von dem Altar mit der Jakobsstatue, die ich von hinten ja schon berühren durfte.
In der Mitte
Zurück in der Herberge unterhalte ich mich mit Mani und Markus über den Tag. Eine Sache ist klar: Santiago ist eine Touristenfalle wie so viele, nur eben für Pilger. Die 5€ für die Papprolle war absolut unverschämt - von mir vorgewarnt haben die beiden sich in einem anderen Souvenirgeschäft eine für 1€ geholt. In den Läden kann man jeden erdenklichen Souvenirkram kaufen, von geschmackvoll über geschmacklos zu grotesk. Es gibt Spongebob-T-Shirts, wo der Schwamm mit Pilgerhut, Stock und Muschel unterwegs ist. Dasselbe mit den Avengers und anderen populären Figuren. Auf einem Markt kann man Literatur kaufen in verschiedenen Sprachen zum Weg - unter anderem liegt dort auch ein ganzer Stapel Exemplare von "Ich bin dann mal weg" von Hape Kerkeling.
Natürlich werde ich auch meine Souvenirs besorgen. Dennoch ist es etwas ernüchternd, die Geldmachmaschine daneben zu sehen. Mani und Markus beschweren sich noch über einen weiteren Umstand: während der Messe kann man deutlich den riesigen Weihrauchschwenker in der Kirche sehen - zum Einsatz kommt dieser aber nur, wenn mindestens 300€ dafür bezahlt wurde. Die beiden finden das unverschämt, insbesondere wenn man bedenkt, wie viel Geld hier eigentlich zusammenkommt.
Interessant finde ich nur, dass trotz der Geldmacherei es der spirituellen Seite des Weges keinen Abbruch tut. Man hat immer noch seine interessanten und erleuchtenden Begegnungen und Erlebnisse. Obwohl danach vom kleinen Straßenhändler bis zum Juwelier oder sogar Tättowierer man Geld einholt für mehr oder weniger bedeutungsvolle Souvenirs.
Das soll nicht bedeuten, dass ich es den Menschen verdenke, ihr Geld durch die Pilger zu verdienen. Das war ja auf dem gesamten Weg so. Die Cafés und Bars und Restaurants haben ja nicht ohne Grund die Stempel bereitliegen - es ist Werbung und gleichzeitig Lockmittel für Kundschaft. Daher kann ich auch verstehen, warum die Händler uns in O Porriño umleiten wollen.
Mich beschäftigte eine ganz andere Frage: soll ich jetzt wirklich noch bis Finisterre weiterlaufen? Ich wurde durch die Wetterberichte reichlich verunsichert. Auch durch Mani und Markus, die natürlich recht damit haben - ich habe meine Urkunde, ich bin gelaufen, ich habe das Hauptziel erreicht. Ich habe meine spirituelle Sinnsuche gehabt und erfolgreich abgeschlossen - eigentlich kann ich es hier beenden. Ich BRAUCHE das Pilgern nach Finisterre nicht. Aber WILL ich es?
Ich gehe zum Supermarkt um den Kopf frei zu kriegen, Frühstück zu holen und Mani und Markus Colas mitzubringen, da der Getränkeautomat ausgefallen ist in der Herberge.
Na gut. Das ist ein Notfall, also schalte ich das Handy ein. Ich schicke an Struppi, einen meiner besten Freunde, eine Nachricht und sage ihm, dass ich nicht weiß, ob ich bis Fisterra laufen will, da es eine Bullenhitze ist. "Wie heiß?" - "37°C" - "Besser als -10°C". Er setzt mich auf den Topf und meint, ich solle mich zusammenreißen - mein Ziel sei Fisterra und das soll ich durchziehen und mir das beweisen, meines Selbstwertgefühls wegen.
Mit dem Ziel hat er natürlich Recht. Mit dem Selbstwertgefühl nicht mehr. Der Trick mit dem "Körperdismorphie auf dem Weg lassen" hat erstaunlich gut funktioniert. Es geht mir gut und ich kann mich auch wieder im Spiegel betrachten. Und es geht mit jedem Tag besser. Aber ja. Natürlich hat es auch einen Grund, warum ich Struppi gefragt habe - ich wusste seine Antwort schon bevor ich die Frage gestellt hatte. Ja, ich will. Das war mein Ziel und dieses habe ich noch nicht erreicht. Und ich habe ihn kontaktiert, weil ich weiß, dass er mir entsprechend in den Arsch tritt.
Nach ein paar Nachrichten schalte ich das Handy wieder aus. Natürlich werde ich laufen. Dann wird es halt sehr heiß werden - aber es sind nur noch drei Tage. Es ist vorbei, wenn ich am Kap von Finisterre ankomme und hinaus auf den Atlantik blicken kann.

Sonntag, 9. Juli 2017

Tag 12 - Die Ruhe vor dem Sturm (Vilanova de Arousa - Teo)

Man sieht sich immer zweimal im Leben.
(Redensart)
Normalerweise verlässt man morgens von sich aus die Herberge. Die Hospitaleiros und Hospitaleiras sind dann nicht da, diese sind nur abends dort. Vilanova macht hier eine Ausnahme. Der Hospitaleiro empfängt uns und führt uns zum Hafen um sicherzustellen, dass es bei der Überfahrt keine Probleme gibt und alle rechtzeitig abgeholt werden.
Da es Flut ist, gibt es mit dem Wasser schon einmal kein Problem mehr
Das Schlauchboot füllt sich schnell mit uns Pilgern und ist bald effektiv überfüllt. Karin macht das extrem nervös - sie mag Wasser nicht so sehr. Ganz im Gegensatz zu Bob, der vergnügt wie ein kleiner Junge auf dem Schlauch des Bootes herumhopst, was sie gar nicht lustig findet - auch nicht, als er ihr versichert, dass der Fluss Ulla nicht tief ist.
Arousa, das Gewässer, in dem wir hier sind, ist auch wieder eine Ria, also wieder so eine fjordähnliche Struktur, diesmal eben von der Ulla, den Fluss, wo angeblich die Überreste des Apostels entlang transportiert wurden. Daher gehört dies auch zu der Pilgerfahrt - man wiederholt hier die letzte Reise des Heiligen Jakob. Zunächst fährt uns der Kapitän aber an eine der Muschelfarmen, von denen es viele in der Ria gibt. Er erklärt, dass es sich bei Austern um eines der Hauptexportprodukte handelt und wie die Zucht und Ernte funktioniert.
Als ich an der Ria das erste Mal ankam, sahen die aus der Ferne wie Wracks aus

Wir fahren an einem Nationalpark vorbei, in dem es Europas größten Papagei gibt. Und immer wieder Kreuze. 17 Stück gibt es entlang der Ulla. Jedes steht für einen der originären Jakobswege.
Welches Kreuz für welchen steht, weiß ich leider nicht.
Ich muss etwas grinsen, denn Luciano hatte mich vor der Bootsfahrt gewarnt, dass es kalt werden könnte, und ich solle mir einen Pullover anziehen. Tatsächlich machten das auch die Portugiesen ganz schnell. Ich entgegnete etwas schnippisch, dass ich Norddeutscher sei und er als Venezianer nicht wirklich wisse, was kalt sei. Tatsächlich kühlt das Wasser und der Fahrtwind die Luft ab, da es aber bereits 8 Uhr ist, hat die Sonne schon einiges an Gewalt und die Kombination aus beidem ist mehr als angenehm. Ich muss meine Mütze festhalten, aber mir ist nicht kalt - nach Tagen der Hitze aber auch nicht zu warm. Es ist sehr angenehm und ich knüpfe sogar noch mein Hemd auf um möglichst viel der kühlen Brise nutzen zu können.
Das Boot fährt vorbei an den Ruinen einer alten Wehranlage, den Torres del Oeste (Türme des Westens), die im 9. Jahrhundert errichtet wurde um den Hafen von Pontecesures gegen die Wikinger zu verteidigen. Neben den Türmen sind Drachenboote vertäut und der Kapitän erklärt, dass hier häufiger Nachstellungen des Sieges über die Wikinger stattfinden.
Leider war nur eine Gegenlichtaufnahme möglich
In Pontecesures angekommen kehren Luciano und ich erst einmal ein. Er fragt mich, wie weit ich heute laufen möchte. Prinzipiell kann man es von hier aus bis abends nach Santiago schaffen - so weit möchte ich aber nicht laufen, sondern erst einmal kurz vor Santiago in einem kleinen Ort namens Teo unterkommen. Luciano hat das auch vor und so laufen wir gemeinsam los. Ab hier sind wir wieder auf dem Hauptweg des portugiesischen Jakobswegs unterwegs. Wir erreichen Padrón und die Kirche des Apostels des Heiligen Jakobs. Luciano erzählt mir, dass hier ein Stein ausgestellt ist, an dem angeblich das Boot mit den Überresten des Apostels vertäut wurde. Als wir in die Kirche kommen, ist es aber kurz vor der Messe. Die Dame am Informationsschalter behandelt uns wie Heilige und würgt einen Mann ab, der vor uns in der Schlange steht und der ihr irgendwas erzählt, um uns nicht nur die Stempel zu geben, sondern noch schnell vor der Messe zu dem Stein zu führen, der sich unter dem Altar befindet. Offensichtlich haben dort Leute sich daran versucht, Münzen auf ihn zu werfen. Ich versuche es auch, schaffe es aber nicht.
Andere waren da erfolgreicher
In einem Café trinke ich wieder meinen Liter Eistee. Luciano kann nur mit dem Kopf schütteln, er begnügt sich mit einem Kaffee. Er versteht auch nicht, wie ich mit Sandalen laufen kann. Ich sage, dass es ganz einfach ist, man muss nur einen Fuß vor den anderen setzen.
Es sind zwar keine 40°C, aber es ist heiß genug. Unter einer Kirche befinden sich zwei Brunnen und die Einheimischen machen ihre Mützen und Hemden nass um es einigermaßen auszuhalten. Nach dieser Strecke an der Landstraße, wo man die Nähe von Santiago an den Entfernungsangaben merkt, geht es wieder durch den Wald und fernab des Verkehrs.
Angenehmer Weg, aber leider wenig Schatten
Schließlich erreichen wir die Herberge von Teo um kurz vor 2. Die Hospitaleira ist sehr nett und wir unterhalten uns halb auf Englisch, halb auf Spanisch. Es ist eine kleine und bescheidene Herberge, aber ausreichend. Die Hospitaleira empfiehlt mir ein Restaurant die Straße hoch, das auch glücklicherweise schon oder noch Essen anbietet. Dort bekomme ich nicht nur sehr leckeres Essen, kleine Schweinefleischstückchen in Knoblauch gesotten, sondern treffe auch Susann aus Dänemark wieder, die dort mit einem anderen Deutschen, Ulli, sitzt. Ich hatte Susann seit Rubiães nicht mehr gesehen. Sie erzählt mir, dass sie dort drei Nächte verbracht hat, da ihre Blasen nicht so schnell heilten und wandern mit ihnen unmöglich war.
Das war für sie das schlimmste, es nicht planen zu können und abhängig zu sein - doch die Lektion war wohl für sie wichtig. Denn jetzt war sie entspannt, sie musste sich nicht so sehr unter Druck setzen und das hatte sie gelernt.
Ich erzähle ihr auch von den Lektionen, die ich gelernt habe und zeige ihr das Pamphlet. Auch sie findet sich wieder... das Heftpflaster und der Stock, die Menschen, die uns auf dem Weg halfen und die Verletzungen, die unvermeidlich sind und dazu gehören. Auch den Rucksack - was man mitnimmt und was nicht.
Auch sie ist in der offiziellen Herberge, wir würden uns also später wiedersehen. Ich esse alleine zu Ende und laufe zurück.
Auf der Straße sehe ich einen Krimi - eine Wespe und eine Gottesanbeterin kämpfen miteinander. Es sieht nicht sehr gut für die Gottesanbeterin aus, nachdem die Wespe mehrmals zustach, aber diese lässt schließlich ab, fliegt mich erst aggressiv an und dann davon. Die Fangschrecke ist aber deutlich mitgenommen und kann sich nur sehr langsam weiter bewegen. Eigentlich auch ein Symbol. Die Gottesanbeterin, mantis religiosa, die religiöse Fangschrecke, die von einer Feldwespe, polistes bischoffi, besiegt wird. Aber hier muss man vorsichtig sein - nicht einfach nur etwas als symbolisch annehmen, weil es dazu geeignet wäre. Es muss auch wirklich für einen eine Bedeutung haben und nicht einfach nur ein Naturschauspiel sein. Natürlich - gäbe es eine entsprechende Interpretation...
Ich gehe sehr früh schlafen - aber nicht für lang. Zwei Portugiesen, die als letzte kommen, schnarchen so laut, dass selbst die Ohropax nicht gut helfen. In der Nacht will ich daher in das Erdgeschoss und auf die Couch umziehen - nur um festzustellen, dass das die Hälfte der anderen Pilger in meinem Raum schon getan haben und alles voll ist. Wohl oder übel arrangiere ich mich also mit den Schnarchern. Morgen geht es nach Santiago. Letzte "offizielle" Etappe.

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Tag 11 - Die Route von Stein und Wasser (Armenteira - Vilanova de Arousa)

Always forgive your enemies; nothing annoys them so much.
Vergib immer deinen Feinden; nichts ärgert sie mehr.
(Oscar Wilde)
Nicht, dass ich das für wahrscheinlich hielt, aber ich war doch etwas enttäuscht, den Hund nicht vor der Herberge zu finden am Morgen. Dennoch beginnt der Tag mit einem Highlight, denn hinter der Herberge ist etwas, was als "ruta de la piedra y del agua" angekündigt wurde - "Route von Stein und Wasser". Und der Name verspricht nicht zu viel. Der Fluss, nachdem das Dorf benannt ist, der Armenteira, fließt hier als Wildbach in Richtung Tal und entlang dieser Strecke haben durch die Zeiten hinweg die Menschen Wassermühlen aus Stein gebaut, die man immer noch als Ruinen in verschiedensten Erhaltungszuständen bestaunen kann. Der Wechsel zwischen den harten Steinen und dem wilden Wasser, den Vorrichtungen, die den Fluss bändigen sollen und die noch zu einem kleinen Teil funktionieren, ist ein faszinierendes Spektakel.
Der Weg ist schwierig und ich muss mit dem Stock immer wieder meinen Knöchel entlasten. Ich versuche auch immer wieder Fotos zu machen, aber da es noch sehr dunkel ist, ist das hoffnungslos.
Am Fuß der Strecke treffe ich Luciano wieder und wir laufen eine Weile zusammen. Er spielt Boticelli und Pavarotti auf seinem Handy. An einer alten Wassermühle, wo der Fluss durchgeleitet wird, wasche ich mir die Füße in dem eiskalten und daher erfrischenden Wasser.
Und endlich war auch das Licht ausreichend

Luciano und ich kehren in einem Café ein und genehmigen uns ein Frühstück, driften aber später wieder beim Pilgern auseinander. Ich laufe alleine durch einen Wald, bis ich an das Ufer des Flusses Umia komme. Der Weg führt einen flussaufwärts. Hier sind viele Jogger und ein paar Fahrradfahrer unterwegs. Ich treffe auch wieder ein paar streunende Hunde - einer der Hunde stupst fasst einen Radfahrer von seinem Fahrrad. Erbost fragt der mich auf Castellano: "Ist das Ihr Hund?" - "Nein." Enttäuscht, dass er niemanden gerade zur Sau machen kann, stößt er galizische Flüche vor sich aus und fährt weiter. Fasziniert entdecke ich, dass man in dem Fluss einen Schwarm Fische sehen kann, die zum Laichen aufziehen - etwas, was ich so noch nie gesehen habe.
Unterwegs treffe ich eine italienische Kleinfamilie und den jüngsten Pilger, den ich auch wirklich laufen sah mit 8 Jahren. Wir trinken uns was in einem Café. Dort treffe ich auch Karin und Bob wieder. Karin ist aus Mülheim, Bob aus Polen. Beide unterhalten sich hauptsächlich auf Spanisch, aber auch auf Deutsch. Karin ist eher reserviert, während Bob mich herzlich einlädt, mich zu ihnen zu setzen.
Kurz darauf sehe ich eine Frau vor einer Kapelle stehen, die mich in einem sauberen, britischen Englisch zu sich ruft und fragt, ob ich einen Stempel haben möchte. Sie würden zwar gerade einpacken, aber für einen hätten Sie noch gerade Zeit. Sie und ihr Kollege geben mir auch noch eine Orange und zwei Pamphlete, auf Deutsch und auf Englisch, über die Symbole des Jakobswegs und der Frage, was nach dem Pilgern passiert.
Alles verdammt gute Fragen. Ich mache kurz Pause und lese mir das Pamphlet durch und denke darüber nach.
Das sah dann so oder so ähnlich aus
Als "Symbole" des Jakobswegs bezeichnet es den gelben Pfeil, den Stock, den Rucksack, das Heftpflaster und die Muschel.
Der gelben Pfeil ist das, was immer die Richtung angibt auf dem Weg. Wie hat es sich angefühlt, als mal ein Pfeil fehlte? Wie fühlte es sich an, wieder einen Pfeil gefunden zu haben und damit auch den Weg? Und wo ist uns das mal im Leben passiert? Ich erinnere mich an die Phase meines Lebens, in der ich mich hilflos und verzweifelt fühlte.
Der Stock - manchmal brauchen wir einfach Hilfe, entweder eine Gehhilfe oder irgendjemand anders, der uns hilft. Ich muss spontan an Pablo und Manuel denken. Mein Stock ist sehr wörtlich meine Hilfe. Und Pablo und Manuel halfen mir, diesen Stock zu finden. Das Pamphlet lädt mich ein, darüber nachzudenken, wer mir sonst so im Leben hilft und meine Stütze ist. Auch das ist einfach. In dieser Phase, in der es mir gar nicht gut ging, weiß ich nun, wer meine Freunde sind, auf wen ich mich verlassen kann. Die sind für mich der Stock in meinem Leben.
Der Rucksack soll uns daran erinnern, dass wir uns Gedanken darüber machen müssen, was wir so mitnehmen auf dem Weg und was nicht. Ich muss schmunzeln, denn ich finde meine Gedanken zu nötig und unnötig und nützlich und nutzlos hier sehr schön wieder. Und bei der Sache mit meiner Körperdismorphie habe ich das schon auf mein Leben übertragen. Ich will dieses Gewicht nicht in meinem Leben weiter tragen.
Das Heftpflaster erinnert, dass Schmerz und Verletzung zum Weg gehören. Genauso wie sie zum Leben gehören.
Und die Muschel ist die helfende Hand - hier natürlich, es ist schließlich ein christliches Pamphlet, die helfenden Hände von Jesus. Ich kann es aber leicht für mich adaptieren. Denn es gibt immer helfende Hände, man muss diese nur zulassen.
Die letzte Geschichte stimmt mich allerdings sehr nachdenklich. Da steht die Frage, was nach dem Jakobsweg kommt und ein Gleichnis: ein junger Pilger kommt zu einem alten Pilger und fragt ihn, wie er zu einem besseren Pilger werden kann. Die Antwort? "Mein Sohn, wenn Du ein echter Pilger sein möchtest, dann kehre nach Hause zu Deiner Familie zurück, zu Deinen Nachbarn, Deinen Freunden und Feinden und höre ihnen zu, diene ihnen, vergib ihnen und liebe sie. Auf diese Weise wirst Du Dich in einen wahren Pilger verwandeln."
In dem Gleichnis wirft der junge Mann alles hin - 1000 Kilometer hätte er weiter laufen können, aber das hätte er nicht gekonnt.
Die Geschichte hallt in mir wieder, da ich in dem Shambhala-Buch gerade an einer Stelle war, wo es darum geht, dass man niemals Menschen aufgehen sollte. Und weil dadurch ein Plan von mir in Zweifel gezogen wurde.
Ein ehemaliger Freund von mir, Hamid, lebte eine Weile bei mir. Viele gemeinsame Freunde und auch meine Mutter denken, dass ich finanziell von ihm ausgenutzt und ausgebeutet wurde. Zu einem kleinen Teil ist das auch nicht falsch. Aber auch nicht das entscheidende. Entscheidend war, dass ich mich emotional von ihm ausgenutzt gefühlt habe. Seine Lebensentscheidungen hatten sein Leben in den Sand gefahren. Jeder gute Ratschlag, wie er sein Leben wieder auf die Schienen kriegt, wurde ignoriert, nur damit er dann, wenn er es auf seine Art versucht hat, feststellen musste, dass es nicht funktioniert. Das hat ihn in immer tiefere Depressionen gestürzt und das belastete nicht nur ihn, sondern auch mich.
Als ich die Freundschaft mit ihm kündigte, wurde dies von meinen wahren Freunden als richtiger Schritt gefeiert. Er sei einfach nicht gut für mich und es ist besser, wenn ich mich von ihm distanziere. Das war der Konsens.
Etwas ähnliches passierte auch mit einem anderen jetzt ehemaligen Freund, Malte. Wir hatten jahrelang zusammen ein Projekt betreut und aufgezogen. Einige Zeit lang waren wir sehr eng befreundet und hatten fast alle zwei Wochen miteinander telefoniert und uns alles mögliche erzählt. Über Jahre hinweg sank aber der Stern dieser Freundschaft langsam aber stetig, wurde die Milch immer saurer und bitterer. Und am Ende stand nur eine Email von ihm, die voll war von Spitzen, von dem Aberkennen gemeinsamer Anstrengungen, weit distanziert von allem, was man als Freund für ihn getan hat, jede Aktion von mir als schändlich interpretiert. Eine Email, die mich in einem so negativen Bild zeichnete, dass ich das nicht einmal in meinen schlimmsten Zeiten als mein Spiegelbild hätte akzeptieren können. Diese Email warf mir Feigheit vor, zwei Wochen nach einem Treffen in meinem Haus, wo er nichts von den Dingen, die ihn seit Jahren plagen, mit mir angesprochen oder durchgesprochen hatte. Auch die Aufkündigung der Freundschaft überließ er mir und nach diesem Dolchstoß in den Rücken fiel mir das herzlich leicht und ich habe nicht zurückgeblickt.
In meinem Gepäck hatte ich zwei Symbole. Ein Bild von Hamid und ein altes Erinnerungsstück an das Projekt, an dem ich zusammen mit Malte gearbeitet hatte. Diese wollte ich am Ende meiner Pilgerreise, am Kap von Finisterre verbrennen. Und jetzt war da ein großes Fragezeichen.
Sollte ich besser damit umgehen? Sollte ich der stärkere, der bessere Mann sein? Das heißt ja nicht, sich wieder ausnutzen zu lassen. Aber es gibt bestimmt einen Mittelweg, in dem man die Menschen so nehmen kann, wie sie sind - ohne selbst leiden zu müssen. Einen besseren Mittelweg.
Was ist nach dem Jakobsweg? Was für ein Mensch möchte ich sein? Will ich ein Mensch sein, der Menschen verbrennt?
Nein.
Sollte ich mehr Größe zeigen? Ich weiß, dass meine besten Freunde zu Hause das wenig verstehen werden. Aber es zeichnet sich schon ab, was ich tun muss. Ich kann ja nicht auf eine spirituelle Sinnsuche gehen und dann die Antwort, die man dabei auf dem Silbertablett gereicht bekommt, ignorieren, weil das irgendwie schwierig ist.
Es geht weiter durch den Wald. Gerade als ich langsam ankommen möchte, dreht der Wind und ich rieche Salzwasser und höre Möwen kreischen. Und vom Wald aus sehe ich plötzlich Wasser und eine lange Brücke, von der ich weiß, dass sie zu Vilanova de Arousa, dem heutigen Etappenende gehört.
So sieht die Brücke deutlich näher dran aus
Es dauert aber noch eine Weile, bis ich die Herberge erreiche. Zunächst geht es an den Stränden entlang.
Vilanova ist so, wie man sich einen spanischen Badeort vorstellt. Ein Campingplatz liegt neben dem nächsten, es wagen sich immer wieder Leute ins Wasser, tollkühne Deutsche legen sich bei der großen Hitze in die Sonne, während die Spanier alle im Schatten lagern. Immer wieder kommen mir auf der Strandpromenade Leute verschiedenster Nationalitäten in Flip-Flops und mit Badesachen entgegen. Ich fühle mich richtig deplatziert mit meinem Oberhemd, dem Rucksack, dem Stock und der Jakobsmuschel um den Hals. Aber nun ja.
Wie gesagt gehört zu der Variante Espiritual eine Bootsfahrt von Vilanova nach Pontecesures. Alternativ kann man diese auch zu Fuß laufen. Eigentlich hatte ich ja die Regel aufgestellt, niemals abzukürzen, egal mit welchem Verkehrsmittel. Ich war mit mir tagelang uneins, ob das für mich bedeutet, dass ich die Strecke zu Fuß laufen soll, obwohl mein Knöchel immer noch Probleme macht, oder ob es für mich zählt, dass die Bootsfahrt "dazu" gehört. Der Hospitaleiro in der Herberge, auf den wir längere Zeit warten mussten, klärt die Frage für mich, weil er von Karin, Bob und mir, als wir fast gleichzeitig ankommen, gleich je 25€ einsackt - 6€ für die Herberge und 19€ für die Bootsfahrt. Damit sei auch die Überfahrt für 8 Uhr am nächsten Morgen schon reserviert. Da ist es entschieden, ich werde morgen mit dem Boot fahren und den einzigen maritimen Kreuzgang der Welt sehen.
Die Herberge ist in einer öffentlichen Turnhalle untergebracht und so hört man gerade die Vilanovaner, die gerade Basketball spielen, was schon ein wenig stört beim Entspannen. Daher folge ich der Empfehlung von dem Hospitaleiro und gehe nach draußen um mir das Museum von Ramón María del Valle-Inclán anzusehen, einem galizischen Schriftsteller.
Die Statue in der Mitte, die sitzt
Die Dame im Museum ist begeistert, dass sich einer der Pilger dafür interessiert und erzählt mir, dass dies das Haus der Großeltern war und es damals Sitte war, dort hin zu gehen, bevor man heiratete. Nachdem sie schon richtig Fahrt aufgenommen hatte um mir die alten Strukturen des Gebäudes zu erklären, unterbreche ich sie und sage, dass ich mich für das Gebäude nicht so sehr interessiere, dafür aber umso mehr für Valle-Inclán, was das für ein Schriftsteller war.
Sie erklärt mir, warum er immer mit einem Ärmel in der Tasche abgebildet wird: bei einem Streit in einem Wirtshaus, wo er sich durch lautes Reden mit einem anderen Gast angelegt hatte, bekam er dann dessen Gehstock in den Arm gerammt. Die Wunde entzündete sich und entwickelte Wundbrand, so dass ihm der Arm amputiert werden musste. Sie empfiehlt mir ein paar Werke und wie diese aufgebaut sind. Da es ein kleines Museum ist, kann man hier aber keine Schriften direkt kaufen. Ich schaue mir noch den hübschen Garten und die restaurierten Räumlichkeiten an und versuche dann, in einem Restaurant etwas zu essen zu ergattern.
Leider ist es in Galizien Sitte, dass Restaurants bis etwa 14:30 auf haben und dann erst ab 20:00 wieder warme Küche anbieten. Das ist sowohl für meinen Reflux als auch für meine allgemeine Ernährung nicht gut. Ich trinke also nur etwas, gehe dann aber unverrichteter Dinge zurück in die Herberge und hole mir nur einen Snack aus dem Automaten. Essen ist nicht so wichtig, habe ich festgestellt. Der Zucker aus dem Eistee reicht tatsächlich lange aus.
In der Herberge sitze ich später noch mit den Portugiesen zusammen und ich erzähle ihnen von dem Pamphlet mit den Symbolen und was es für mich bedeutet, auch die Sache mit Hamid und Malte. Ricardo erzählt mir die Parabel mit dem Skorpion und dem Mönch.
Ein Skorpion möchte einen Fluss überqueren und bittet einen Mönch, ihm zu helfen und ihn auf die andere Seite zu tragen. "Wenn ich das mache, dann wirst du mich doch stechen!" - "Aber nein," sagt der Skorpion, "dann würden wir ja beide untergehen!" Der Mönch willigt ein und schwimmt mit dem Skorpion auf dem Rücken in die Mitte des Flusses. Der Skorpion sticht ihn. "Warum hast du das gemacht? Jetzt gehen wir beide unter!" ruft der Mönch. "Ja, aber ich konnte nicht anders - es ist meine Natur!"
Ich sage: "Es ist aber auch die Natur des Mönches auf jeden Fall zu helfen." Ricardo grinst breit: "Genau!"
Nein, ich muss nicht der ganzen Welt helfen und mich ausnehmen lassen. Aber ja, es gibt viele Abstufungen. Und wenn ich keine Grenzen setze, wenn ich nicht früher den Stöpsel ziehe, dann habe ich eine Teilschuld.
Ich liege noch lange wach im Bett und denke darüber nach. Nein - man muss nicht so helfen, dass man selbst verletzt wird. Das ist dumm. Das entsteht, wenn man jemanden das gibt, was er meint zu brauchen - und nicht das, was er wirklich braucht.
Das ist allerdings nicht der einzige Grund, warum ich nicht schlafen kann - das Bett von Andreas, einem Ostberliner, der mit Josie und Ellie unterwegs ist, quietscht die ganze Nacht. Ein weiteres Mal bin ich für die Ohropax dankbar.

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Anhang

Wer das elent bawen wel,  der heb sich auf und sei mein gesel  wol auf sant Jacobs straßen!  Zwei par schuoch der darf er wol  ein schüßel...