Always forgive your enemies; nothing annoys them so much.
Vergib immer deinen Feinden; nichts ärgert sie mehr.
(Oscar Wilde)Nicht, dass ich das für wahrscheinlich hielt, aber ich war doch etwas enttäuscht, den Hund nicht vor der Herberge zu finden am Morgen. Dennoch beginnt der Tag mit einem Highlight, denn hinter der Herberge ist etwas, was als "ruta de la piedra y del agua" angekündigt wurde - "Route von Stein und Wasser". Und der Name verspricht nicht zu viel. Der Fluss, nachdem das Dorf benannt ist, der Armenteira, fließt hier als Wildbach in Richtung Tal und entlang dieser Strecke haben durch die Zeiten hinweg die Menschen Wassermühlen aus Stein gebaut, die man immer noch als Ruinen in verschiedensten Erhaltungszuständen bestaunen kann. Der Wechsel zwischen den harten Steinen und dem wilden Wasser, den Vorrichtungen, die den Fluss bändigen sollen und die noch zu einem kleinen Teil funktionieren, ist ein faszinierendes Spektakel.
Der Weg ist schwierig und ich muss mit dem Stock immer wieder meinen Knöchel entlasten. Ich versuche auch immer wieder Fotos zu machen, aber da es noch sehr dunkel ist, ist das hoffnungslos.
Am Fuß der Strecke treffe ich Luciano wieder und wir laufen eine Weile zusammen. Er spielt Boticelli und Pavarotti auf seinem Handy. An einer alten Wassermühle, wo der Fluss durchgeleitet wird, wasche ich mir die Füße in dem eiskalten und daher erfrischenden Wasser.
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| Und endlich war auch das Licht ausreichend |
Luciano und ich kehren in einem Café ein und genehmigen uns ein Frühstück, driften aber später wieder beim Pilgern auseinander. Ich laufe alleine durch einen Wald, bis ich an das Ufer des Flusses Umia komme. Der Weg führt einen flussaufwärts. Hier sind viele Jogger und ein paar Fahrradfahrer unterwegs. Ich treffe auch wieder ein paar streunende Hunde - einer der Hunde stupst fasst einen Radfahrer von seinem Fahrrad. Erbost fragt der mich auf Castellano: "Ist das Ihr Hund?" - "Nein." Enttäuscht, dass er niemanden gerade zur Sau machen kann, stößt er galizische Flüche vor sich aus und fährt weiter. Fasziniert entdecke ich, dass man in dem Fluss einen Schwarm Fische sehen kann, die zum Laichen aufziehen - etwas, was ich so noch nie gesehen habe.
Unterwegs treffe ich eine italienische Kleinfamilie und den jüngsten Pilger, den ich auch wirklich laufen sah mit 8 Jahren. Wir trinken uns was in einem Café. Dort treffe ich auch Karin und Bob wieder. Karin ist aus Mülheim, Bob aus Polen. Beide unterhalten sich hauptsächlich auf Spanisch, aber auch auf Deutsch. Karin ist eher reserviert, während Bob mich herzlich einlädt, mich zu ihnen zu setzen.
Kurz darauf sehe ich eine Frau vor einer Kapelle stehen, die mich in einem sauberen, britischen Englisch zu sich ruft und fragt, ob ich einen Stempel haben möchte. Sie würden zwar gerade einpacken, aber für einen hätten Sie noch gerade Zeit. Sie und ihr Kollege geben mir auch noch eine Orange und zwei Pamphlete, auf Deutsch und auf Englisch, über die Symbole des Jakobswegs und der Frage, was nach dem Pilgern passiert.
Alles verdammt gute Fragen. Ich mache kurz Pause und lese mir das Pamphlet durch und denke darüber nach.
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| Das sah dann so oder so ähnlich aus |
Der gelben Pfeil ist das, was immer die Richtung angibt auf dem Weg. Wie hat es sich angefühlt, als mal ein Pfeil fehlte? Wie fühlte es sich an, wieder einen Pfeil gefunden zu haben und damit auch den Weg? Und wo ist uns das mal im Leben passiert? Ich erinnere mich an die Phase meines Lebens, in der ich mich hilflos und verzweifelt fühlte.
Der Stock - manchmal brauchen wir einfach Hilfe, entweder eine Gehhilfe oder irgendjemand anders, der uns hilft. Ich muss spontan an Pablo und Manuel denken. Mein Stock ist sehr wörtlich meine Hilfe. Und Pablo und Manuel halfen mir, diesen Stock zu finden. Das Pamphlet lädt mich ein, darüber nachzudenken, wer mir sonst so im Leben hilft und meine Stütze ist. Auch das ist einfach. In dieser Phase, in der es mir gar nicht gut ging, weiß ich nun, wer meine Freunde sind, auf wen ich mich verlassen kann. Die sind für mich der Stock in meinem Leben.
Der Rucksack soll uns daran erinnern, dass wir uns Gedanken darüber machen müssen, was wir so mitnehmen auf dem Weg und was nicht. Ich muss schmunzeln, denn ich finde meine Gedanken zu nötig und unnötig und nützlich und nutzlos hier sehr schön wieder. Und bei der Sache mit meiner Körperdismorphie habe ich das schon auf mein Leben übertragen. Ich will dieses Gewicht nicht in meinem Leben weiter tragen.
Das Heftpflaster erinnert, dass Schmerz und Verletzung zum Weg gehören. Genauso wie sie zum Leben gehören.
Und die Muschel ist die helfende Hand - hier natürlich, es ist schließlich ein christliches Pamphlet, die helfenden Hände von Jesus. Ich kann es aber leicht für mich adaptieren. Denn es gibt immer helfende Hände, man muss diese nur zulassen.
Die letzte Geschichte stimmt mich allerdings sehr nachdenklich. Da steht die Frage, was nach dem Jakobsweg kommt und ein Gleichnis: ein junger Pilger kommt zu einem alten Pilger und fragt ihn, wie er zu einem besseren Pilger werden kann. Die Antwort? "Mein Sohn, wenn Du ein echter Pilger sein möchtest, dann kehre nach Hause zu Deiner Familie zurück, zu Deinen Nachbarn, Deinen Freunden und Feinden und höre ihnen zu, diene ihnen, vergib ihnen und liebe sie. Auf diese Weise wirst Du Dich in einen wahren Pilger verwandeln."
In dem Gleichnis wirft der junge Mann alles hin - 1000 Kilometer hätte er weiter laufen können, aber das hätte er nicht gekonnt.
Die Geschichte hallt in mir wieder, da ich in dem Shambhala-Buch gerade an einer Stelle war, wo es darum geht, dass man niemals Menschen aufgehen sollte. Und weil dadurch ein Plan von mir in Zweifel gezogen wurde.
Ein ehemaliger Freund von mir, Hamid, lebte eine Weile bei mir. Viele gemeinsame Freunde und auch meine Mutter denken, dass ich finanziell von ihm ausgenutzt und ausgebeutet wurde. Zu einem kleinen Teil ist das auch nicht falsch. Aber auch nicht das entscheidende. Entscheidend war, dass ich mich emotional von ihm ausgenutzt gefühlt habe. Seine Lebensentscheidungen hatten sein Leben in den Sand gefahren. Jeder gute Ratschlag, wie er sein Leben wieder auf die Schienen kriegt, wurde ignoriert, nur damit er dann, wenn er es auf seine Art versucht hat, feststellen musste, dass es nicht funktioniert. Das hat ihn in immer tiefere Depressionen gestürzt und das belastete nicht nur ihn, sondern auch mich.
Als ich die Freundschaft mit ihm kündigte, wurde dies von meinen wahren Freunden als richtiger Schritt gefeiert. Er sei einfach nicht gut für mich und es ist besser, wenn ich mich von ihm distanziere. Das war der Konsens.
Etwas ähnliches passierte auch mit einem anderen jetzt ehemaligen Freund, Malte. Wir hatten jahrelang zusammen ein Projekt betreut und aufgezogen. Einige Zeit lang waren wir sehr eng befreundet und hatten fast alle zwei Wochen miteinander telefoniert und uns alles mögliche erzählt. Über Jahre hinweg sank aber der Stern dieser Freundschaft langsam aber stetig, wurde die Milch immer saurer und bitterer. Und am Ende stand nur eine Email von ihm, die voll war von Spitzen, von dem Aberkennen gemeinsamer Anstrengungen, weit distanziert von allem, was man als Freund für ihn getan hat, jede Aktion von mir als schändlich interpretiert. Eine Email, die mich in einem so negativen Bild zeichnete, dass ich das nicht einmal in meinen schlimmsten Zeiten als mein Spiegelbild hätte akzeptieren können. Diese Email warf mir Feigheit vor, zwei Wochen nach einem Treffen in meinem Haus, wo er nichts von den Dingen, die ihn seit Jahren plagen, mit mir angesprochen oder durchgesprochen hatte. Auch die Aufkündigung der Freundschaft überließ er mir und nach diesem Dolchstoß in den Rücken fiel mir das herzlich leicht und ich habe nicht zurückgeblickt.
In meinem Gepäck hatte ich zwei Symbole. Ein Bild von Hamid und ein altes Erinnerungsstück an das Projekt, an dem ich zusammen mit Malte gearbeitet hatte. Diese wollte ich am Ende meiner Pilgerreise, am Kap von Finisterre verbrennen. Und jetzt war da ein großes Fragezeichen.
Sollte ich besser damit umgehen? Sollte ich der stärkere, der bessere Mann sein? Das heißt ja nicht, sich wieder ausnutzen zu lassen. Aber es gibt bestimmt einen Mittelweg, in dem man die Menschen so nehmen kann, wie sie sind - ohne selbst leiden zu müssen. Einen besseren Mittelweg.
Was ist nach dem Jakobsweg? Was für ein Mensch möchte ich sein? Will ich ein Mensch sein, der Menschen verbrennt?
Nein.
Sollte ich mehr Größe zeigen? Ich weiß, dass meine besten Freunde zu Hause das wenig verstehen werden. Aber es zeichnet sich schon ab, was ich tun muss. Ich kann ja nicht auf eine spirituelle Sinnsuche gehen und dann die Antwort, die man dabei auf dem Silbertablett gereicht bekommt, ignorieren, weil das irgendwie schwierig ist.
Es geht weiter durch den Wald. Gerade als ich langsam ankommen möchte, dreht der Wind und ich rieche Salzwasser und höre Möwen kreischen. Und vom Wald aus sehe ich plötzlich Wasser und eine lange Brücke, von der ich weiß, dass sie zu Vilanova de Arousa, dem heutigen Etappenende gehört.
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| So sieht die Brücke deutlich näher dran aus |
Vilanova ist so, wie man sich einen spanischen Badeort vorstellt. Ein Campingplatz liegt neben dem nächsten, es wagen sich immer wieder Leute ins Wasser, tollkühne Deutsche legen sich bei der großen Hitze in die Sonne, während die Spanier alle im Schatten lagern. Immer wieder kommen mir auf der Strandpromenade Leute verschiedenster Nationalitäten in Flip-Flops und mit Badesachen entgegen. Ich fühle mich richtig deplatziert mit meinem Oberhemd, dem Rucksack, dem Stock und der Jakobsmuschel um den Hals. Aber nun ja.
Wie gesagt gehört zu der Variante Espiritual eine Bootsfahrt von Vilanova nach Pontecesures. Alternativ kann man diese auch zu Fuß laufen. Eigentlich hatte ich ja die Regel aufgestellt, niemals abzukürzen, egal mit welchem Verkehrsmittel. Ich war mit mir tagelang uneins, ob das für mich bedeutet, dass ich die Strecke zu Fuß laufen soll, obwohl mein Knöchel immer noch Probleme macht, oder ob es für mich zählt, dass die Bootsfahrt "dazu" gehört. Der Hospitaleiro in der Herberge, auf den wir längere Zeit warten mussten, klärt die Frage für mich, weil er von Karin, Bob und mir, als wir fast gleichzeitig ankommen, gleich je 25€ einsackt - 6€ für die Herberge und 19€ für die Bootsfahrt. Damit sei auch die Überfahrt für 8 Uhr am nächsten Morgen schon reserviert. Da ist es entschieden, ich werde morgen mit dem Boot fahren und den einzigen maritimen Kreuzgang der Welt sehen.
Die Herberge ist in einer öffentlichen Turnhalle untergebracht und so hört man gerade die Vilanovaner, die gerade Basketball spielen, was schon ein wenig stört beim Entspannen. Daher folge ich der Empfehlung von dem Hospitaleiro und gehe nach draußen um mir das Museum von Ramón María del Valle-Inclán anzusehen, einem galizischen Schriftsteller.
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| Die Statue in der Mitte, die sitzt |
Sie erklärt mir, warum er immer mit einem Ärmel in der Tasche abgebildet wird: bei einem Streit in einem Wirtshaus, wo er sich durch lautes Reden mit einem anderen Gast angelegt hatte, bekam er dann dessen Gehstock in den Arm gerammt. Die Wunde entzündete sich und entwickelte Wundbrand, so dass ihm der Arm amputiert werden musste. Sie empfiehlt mir ein paar Werke und wie diese aufgebaut sind. Da es ein kleines Museum ist, kann man hier aber keine Schriften direkt kaufen. Ich schaue mir noch den hübschen Garten und die restaurierten Räumlichkeiten an und versuche dann, in einem Restaurant etwas zu essen zu ergattern.
Leider ist es in Galizien Sitte, dass Restaurants bis etwa 14:30 auf haben und dann erst ab 20:00 wieder warme Küche anbieten. Das ist sowohl für meinen Reflux als auch für meine allgemeine Ernährung nicht gut. Ich trinke also nur etwas, gehe dann aber unverrichteter Dinge zurück in die Herberge und hole mir nur einen Snack aus dem Automaten. Essen ist nicht so wichtig, habe ich festgestellt. Der Zucker aus dem Eistee reicht tatsächlich lange aus.
In der Herberge sitze ich später noch mit den Portugiesen zusammen und ich erzähle ihnen von dem Pamphlet mit den Symbolen und was es für mich bedeutet, auch die Sache mit Hamid und Malte. Ricardo erzählt mir die Parabel mit dem Skorpion und dem Mönch.
Ein Skorpion möchte einen Fluss überqueren und bittet einen Mönch, ihm zu helfen und ihn auf die andere Seite zu tragen. "Wenn ich das mache, dann wirst du mich doch stechen!" - "Aber nein," sagt der Skorpion, "dann würden wir ja beide untergehen!" Der Mönch willigt ein und schwimmt mit dem Skorpion auf dem Rücken in die Mitte des Flusses. Der Skorpion sticht ihn. "Warum hast du das gemacht? Jetzt gehen wir beide unter!" ruft der Mönch. "Ja, aber ich konnte nicht anders - es ist meine Natur!"
Ich sage: "Es ist aber auch die Natur des Mönches auf jeden Fall zu helfen." Ricardo grinst breit: "Genau!"
Nein, ich muss nicht der ganzen Welt helfen und mich ausnehmen lassen. Aber ja, es gibt viele Abstufungen. Und wenn ich keine Grenzen setze, wenn ich nicht früher den Stöpsel ziehe, dann habe ich eine Teilschuld.
Ich liege noch lange wach im Bett und denke darüber nach. Nein - man muss nicht so helfen, dass man selbst verletzt wird. Das ist dumm. Das entsteht, wenn man jemanden das gibt, was er meint zu brauchen - und nicht das, was er wirklich braucht.
Das ist allerdings nicht der einzige Grund, warum ich nicht schlafen kann - das Bett von Andreas, einem Ostberliner, der mit Josie und Ellie unterwegs ist, quietscht die ganze Nacht. Ein weiteres Mal bin ich für die Ohropax dankbar.
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