千里之行,始於足下
"Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit einem einzelnen Schritt"
Laotse"Nimm einfach deine Sachen und gehe los!" sagte Lutz in einem fast pathetischen Tonfall. Dabei sah er mich mit diesem besonderen Blick an, den er immer aufsetzte, wenn er etwas bedeutendes sagen wollte: mit einem halb zugekniffenem und einem scharf durchdringenden Auge. Wir saßen in einem bretonischen Restaurant in Hamburg - draußen regnete es leicht.
Losgehen - damit meinte er den Jakobsweg. Es war nicht das erste Mal, dass er davon berichtete und mir davon vorschwärmte. Aus zweiter Hand - er selbst war ihn nicht gelaufen, aber er kannte einige, die auf den Weg schwören und über die unglaublichen Erfahrungen und Erlebnisse berichteten. Seit seinen ersten Schilderungen hatte ich mich informiert gehabt. Genauer sind es die Jakobswege - ein ganzes Netzwerk von Pilgerwegen, das sich durch ganz Europa zieht mit der galizischen Stadt Santiago als Ziel, wo angeblich die sterblichen Überreste des Apostels Jakob liegen sollen. Auf meinen Einwand, dass ich kein Christ bin, sondern mich eher als Agnostiker oder sogar Atheist verstehe, winkt Lutz nur ab:
"Der Weg ist nicht nur christlich, das ist eine spirituelle Reise. Den laufen Leute aus allen Kulturen."
Ich war noch nicht überzeugt. Ich war gerade bei meinem Bruder zur Untermiete eingezogen und es lief nicht so wirklich gut, auch, weil ich arge Probleme hatte, mein Geld zu verdienen. Mein Studium lief gerade in eine Sackgasse, auch wenn das immer das war, was ich machen wollte. Ich hatte gerade keine Sicherheit und keine Perspektive - und da soll ich einfach hier alles stehen und liegen lassen und einen ganzen Monat lang durch die spanische Pampa von Frankreich aus zu Fuß bis an den Atlantik laufen? Das klang absurd, ja, fast wahnsinnig.
Dennoch fand ich die Idee faszinierend. Ich hatte damals mich mit den Mysterienkulten verschiedener Kulturen beschäftigt. Sehr viele hatten die Idee einer Reise von einem symbolischen Tod und einer symbolischen Wiedergeburt - und Pilgern war ein fester Bestandteil dieser Traditionen. Eine Metapher auf das Leben.
Und irgendwie lockte es mich - es lockte mich sogar sehr.
Nicht nur wegen der spirituellen Komponente, also der Möglichkeit, etwas über mich zu lernen.
Sondern auch, weil es ein Abenteuer war.
Der Wirt legte gerade frische Jakobsmuscheln als Aschenbecher aus - damals durfte man noch in Restaurants rauchen. Ich wusste, dass die Muschel als Symbol für Jakobspilger verwendet wird. Und in einem kurzen Impuls der Abenteuerlust und dem Wunsch nach einem Weg zur Erleuchtung oder zumindest einer Möglichkeit der Reflexion fragte ich, ob ich zwei dieser Muscheln haben kann. Lutz nickt lächelnd, als ich sie vor seinen Augen in meinen Rucksack stecke.
Das war 2002.
Die Freundschaft mit Lutz dauerte nicht sehr lange danach an und plätscherte vor sich hin, bevor sie schließlich im Sand versickerte und ich keinen Kontakt mehr mit ihm hatte. Ich orientierte mein Studium neu, ich fand Therapieformen, ich fand neue Freunde, ein neues Umfeld, einen neuen Job, schließlich zog ich aus Hamburg weg und nach Dortmund, beendete mein Studium, fand und verlor dort zwei vollständige Freundes- und Bekanntenkreise, fand dann einen stabilen Freundeskreis, baute mir eine Karriere auf und riss sie mit dem Hintern ein, wäre fast bankrott gegangen, fand dann einen neuen Auftraggeber und zog schließlich nach Duisburg um.
Und nach all diesen Änderungen und komplett anderen Lebensabschnitten und Grundsätzen lagen die beiden Jakobsmuscheln immer noch im Schrank. 15 Jahre lang lagen sie da als konstante Erinnerung an ein Abenteuer, was ich nicht in Angriff genommen hatte, was ich geplant, aber nie umgesetzt hatte, eines der Dinge, das mich gerufen hat, wozu ich aber zu jedem Zeitpunkt entweder nicht das Geld, nicht die Zeit oder die Motivation hatte. Etwas, was man Freunden gegenüber erwähnt mit "Ich möchte mal..." aber nie tat. Bis ich 2016 Moritz traf.
Wir waren beide unterwegs zu demselben Urlaubsort in Frankreich und er hatte in einem Forum nach einer Mitfahrgelegenheit gesucht. Er erzählte mir, dass er den portugiesischen Weg gelaufen ist. Statt 600km sei dieser nur etwa 240km lang von Porto - bequem in zwei Wochen zu schaffen.
Plötzlich war sie wieder da, die Abenteuerlust. Wäre es nicht schön, nach all den Dingen, die sich in den letzten Jahren ereignet haben, nach all den Änderungen und den gelernten Lektionen und den falschen und echten Freunden einmal eine Auszeit zu haben und dabei endlich dieses Abenteuer anzugehen? Einige Lebensfragen zu klären?
Mein Leben fuhr langsam in so etwas wie einen sicheren Hafen ein. Ich hatte ein günstiges Haus, einen stabilen Job - die letzten Klippen waren zwar noch nicht umschifft, aber das war abzusehen.
Die Zeichen standen alle günstig. Also... warum nicht?
Der Vorteil der langen Problemphase war, dass ich nun wusste, wer die Freunde sind, auf die ich bauen, auf die ich mich fest verlassen konnte. Aber das hieß auch, dass das letzte Abenteuer auf eigene Faust lange her war. Also warum nicht diese Atempause nutzen?
Ich frage meinen Vorgesetzten, ob ich einen Monat frei kriegen könnte. Er verneint. Drei Wochen hingegen seien kein Problem. Also genug Zeit für den portugiesischen Weg, mit Puffer.
Ich recherchiere im Internet, was die beste Jahreszeit ist, um zu laufen. Klimatisch ist der Juni einer der trockensten Monate in Portugal mit durchschnittlich nur zwei Regentagen, dafür mit angenehmen Temperaturen um die 25°. Perfekt. Ich beantrage drei Wochen Urlaub für Juni und kriege den genehmigt
Ich bestelle einen Pilgerpass und gebe an, dass ich am 6.6. loslaufen möchte - am Wochenende davor ist ein Liverollenspiel, wo ich mithelfen soll, außerdem gibt es erst am Montag einen geeigneten Direktflug. Ich kaufe die Tickets. Der Pass kommt, trotz Aussage der Jakobusgesellschaft, dass der Pass erst 2 Wochen vor der Pilgerfahrt verschickt wird, schon nach wenigen Tagen an.
Ein Freund von mir, der häufig wandern geht, nordet mich ein, was die Packliste und praktische Erfahrungen bezüglich lange Wanderungen angeht und über die nächsten Wochen wird die Ausrüstung und die Bekleidung nach und nach zusammengestellt.
Am Montag, den 5.6. gibt es ein Frühstück mit Freunden, die mich dann in Köln-Bonn absetzen. Ich checke meinen Rucksack ein mit nur einer Plastiktüte als Handgepäck. Ich laufe zur Sicherheitsschleuse und trete hindurch - der erste Schritt einer langen Reise.
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