Wer nicht im Augenblicke hilft, scheint mir nie zu helfen, wer nicht im Augenblicke Rat gibt, nie zu raten.
(Goethe)Es ist noch sehr dunkel als wir weiterziehen. Das ist auf der einen Seite sehr hübsch, Mond und Venus leuchten am Himmel um die Wette. Aber es ist zu dunkel für mich um einen Wegweiser zu sehen und so biege ich falsch ab. Andrea hat aber seine Stirnlampe auf und ruft mich zurück. Ich laufe mit den Italienern zusammen - langsam dämmert es und man kann jetzt auch ohne Lampe die Pfeile wieder erkennen.
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| Das einzige halbwegs schöne Bild, das den pastellfarbigen Himmel einfängt |
Derweil unterhalte ich mich mit Marco über dies und das. Er ist bei den Pfadfindern und sein Bruder gerade in Australien. Während wir uns über Kängurus und Koalas unterhalten, erreichen wir eine Quelle, an der wir kurz Rast machen um unsere Wasserflaschen aufzufüllen. Gerade als wir wieder gehen wollen, kommt ein anderer Pilger den Weg entlang, grüßt kurz mit einem "Buen Camino", stutzt und schaut mich dann erkennend an. Es ist Joost, der Niederländer, den ich häufiger in Portugal gesehen hatte! Er ist hocherfreut mich zu sehen, er hatte von anderen gehört, dass ich verletzt war und hatte befürchtet, dass ich abbrechen musste. Aber hier war ich sogar auf dem Weg nach Fisterra. Er setzt sich und wir frühstücken zusammen. Endlich verbrauche ich auch die Orange, die ich auf dem Espiritual bekam.
Joost erzählt mir, dass Nanette leider verletzt ist und daher derzeit im Taxi hinterher fahren muss. Wir laufen zusammen weiter und unterhalten uns über erneuerbare Energien und neue Geschäfte, über Spiritualität und Tod. Ich erzähle ihm die Geschichte mit dem großen Gleichmacher, nachdem er sagte, dass er ein Kunstwerk sah mit dem Titel "Danse Macabre" (Totentanz), wo jemand Kükenskelette, die hinter einer Wand gefunden wurden, ausgestellt hatte.
Während wir laufen fährt Nanette im Taxi an uns vorbei. Begeistert zeigt er auf mich. Wir treffen auf eine weitere Niederländerin und Emily, eine Pilgerin aus Cork in Irland. Die Gespräche drehen sich um britischen und irischen Humor, bis sie wieder an mir weiter vorbei ziehen und ich wieder alleine laufe.
Eine weitere Gruppe, auf die ich treffe, besteht aus zwei Amerikanerinnen und zwei Deutschen. Eine der Amerikanerinnen sagt, dass sie aus Kansas City kommt und sie ist entzückt, dass ich weiß, dass es zwei Städte mit dem Namen gibt. Ich sage, dass ich das weiß, weil ich gelernt habe, was ein Kansas City Shuffle ist, was sie noch mehr beeindruckt.
Ein Kansas City Shuffle ist ein Betrug, bei dem der Betrogene zurecht vermutet, dass er betrogen wird, ihm dieser Glaube auch gelassen wird - aber er getäuscht wird in der Art, wie genau der Betrug funktioniert. Also: er liegt richtig darin zu vermuten, dass er betrogen wird, aber komplett falsch in der Vermutung, wie der Betrug aussieht. Und das ist von den Betrügern die ganze Zeit so geplant. Daher auch der Name Kansas City Shuffle, also "Kansas-City-Mischen". Man glaubt, dass man in Kansas City ist. Das stimmt auch - es ist nur das andere Kansas City.
Die Amerikanerin ist jedenfalls aus dem größeren und bedeutenderen Kansas City in Missouri. Kansas City in Kansas ist auf der anderen Seite des Flusses Missouri und ist eher bedeutungslos.
Wir sprechen über den Film "Lucky Number Slevin", in dem es um einen Kansas City Shuffle geht und erreichen sehr bald das Ende der Tagesetappe für diese Gruppe an einer kleinen Herberge. Ich trinke mir dort aber nur meinen Eistee und ziehe weiter - allerdings ohne auf Klo zu gehen.
Das bereue ich etwa eine Stunde später, als ich durch ein kleines Bauerndorf ziehe. Im Wald hätte ich mich einfach hinter einen Baum gehockt, aber in einem besiedelten Gebiet will ich das nicht. Allerdings scheint es in der Siedlung keine öffentlichen Toiletten zu geben. Ich sehe als Gebäude mit Kundenbetrieb nur einen Friseursalon und der ist geschlossen. Verzweifelt entschließe ich mich, zu fragen. Die Tür beim nächstbesten Haus ist offen. Der Haushund rennt zwar raus und kläfft mich an, läuft aber nur bis zur Gartenpforte. Ihm folgt eine Dame, die ich auf Castellano frage, ob ich bitte ihr Klo benutzen dürfte. Die Antwort kommt ebenfalls auf Castellano: "Tut mir leid, der Herr, ich arbeite hier nur, ich bin das Hausmädchen, die Herrschaften sind leider nicht da und ich darf niemanden hineinlassen."
Gut. Nächster Versuch. Vor einem weiteren Haus, wieder mit offener Tür, sitzt ein altes Ehepaar. Dieselbe Frage. "HÄ?!? WAS WOLLEN SIE?!?" Das geht ja gut los, denke ich. Ich wiederhole die Frage, diesmal etwas deutlicher. "Wir haben kein Badezimmer! Gehen Sie woanders hin!" Na toll. Danke.
Aus dem dritten Haus kommt eine junge Frau. Aller guten Dinge sind drei, denke ich. "Könnte ich bitte Ihr Klo benutzen?" - "Aber selbstverständlich, kommen Sie mit!" Dankbar und erleichtert folge ich ihr ins Badezimmer. Aber nur, bis ich das Klo sehe - das ist nämlich leider verstopft und bis oben voll.
Egal. In der Not kann man es sich halt nicht aussuchen und ich verrichte mein Geschäft. Danach wage ich zu spülen - und siehe da... plötzlich löst sich was auch immer die Rohre verstopft hatte und das Klo ist wieder frei. Wenigstens hat die junge Frau für ihre Freundlichkeit eine Gegenleistung bekommen. Ich benetze mein Kopftuch mit Wasser, bedanke mich und gehe.
Die Mittagssonne und -hitze machen mir wieder zu schaffen, da es auf dem hügeligen Weg wieder kaum Schatten gibt. Ich treffe Simone, eine brasilianische Pilgerin, mit der ich mein Portugiesisch wieder etwas üben kann. Wir unterhalten uns über die Unterschiede zwischen Rio und São Paulo.
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| Eines der wenigen schattigen Stellen |
In Olveira winkt mir auch schon einer der Amerikaner zu - das mit der Reservierung hat funktioniert. Nicht nur das, die Herberge hat direkt daneben ein Restaurant mit Pilgermenüs und einer Klimaanlage, die nach der Hitze ein Segen ist.
Einer der Kellner ist ursprünglich aus Liechtenstein und spricht daher Deutsch. Ich bestelle ein Steak bei ihm. Das, was dann ankommt, hat aber eher Ähnlichkeit mit einer halben Kuh. Es ist sehr lecker aber so sättigend, dass ich nicht alles verdrücken kann. Den Vorschlag, dass er mir das Fleisch für den Abend zurücklegen kann beantworte ich mit: "Danach esse ich drei Tage nichts mehr!" Er bekommt 1,50€ Trinkgeld und fragt zweimal nach, ob ich das ernst meine und ob das wirklich für ihn ist. Anscheinend ist das mit dem Trinkgeld in den Reiseführern falsch ausgewiesen.
Ich bringe den Amerikanern eines der Spiele bei, die ich auf Liverollenspielen gerne mit Leuten in Tavernen spiele, Bärenjagd. Die Idee ist, dass man mit fünf Würfeln verschiedene Würfe macht und dann immer sagt, wie viele "Höhlen" und wie viele "Bären" man sieht. Die anderen müssen das System dahinter herauskriegen. Die Mädchen in der Gruppe finden es zuerst raus, was die beiden Jungs fast in den Wahnsinn treibt. Simone, die Portugiesin, gesellt sich auch dazu, gibt aber schnell auf.
Später am Abend sehe ich auch Andrea, Marco und José wieder, als sie im Restaurant essen und Makao spielen. Sie wollen nicht nach Fisterra, sondern nach Muxia, daher werde ich sie wohl am nächsten Tag nicht wiedersehen.
Ich nutze die Zeit um mir über die Pilgergemeinschaft Gedanken zu machen. Dem Stock, den Menschen, die uns helfen. Dazu gehören nicht nur andere Pilger, sondern auch die Menschen, denen wir auf dem Weg begegnen und die uns mit Rat oder Tat zur Seite stehen. Wie heute die junge Frau oder wie die Amerikaner, als ich am dehydrieren war.
Nur noch ein Tag - morgen ist die Pilgerfahrt endgültig vorüber. Als Ersatz für das Bild von Hamid schreibe ich einen Zettel mit Symbolen und Sätzen, die meine Körperdismorphie symbolisieren. Das will ich verbrennen - oder zumindest auf dem Weg zurücklassen. Bloß wie? Das ist ein Problem von morgen.


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