Donnerstag, 20. Juli 2017

Epilog

Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.
(Franz Kafka) 
Den Morgen in Fisterra ging ich gemütlich an. Ich hatte Zeit - in der Herberge durfte ich bis 10 Uhr bleiben. Danach frühstückte ich genüsslich in einem Café, das von zwei Deutschen betrieben wird. Crêpe mit Eis und Kirschen, dazu Chai Latte und die erste Apfelschorle seit zwei Wochen, die ich trinke, als sei es das Kostbarste von der Welt. Danach geht es in den Bus, der mich deutlich schneller als gedacht zurück nach Santiago bringt.
Die Dame in der Albergue Credencial erkennt mich wieder und gratuliert mir, dass ich es bis Fisterra geschafft habe. Sie führt mich zu meinem Bett. "Sie kennen ja schon alles, ich muss Ihnen nichts mehr erklären." - "Stimmt. Danke!"
Ich laufe in die Stadt. Auf dem Platz vor der Kathedrale laufen wieder Gruppen von Pilgern zusammen und gratulieren sich, machen Gruppenfotos. Ich sehe niemanden, den ich kenne, aber das ist in Ordnung. Ich will in das Pilgermuseum. Ob ich beweisen kann, dass ich Pilger bin, werde ich gefragt. Meinen Pass habe ich aber in der Herberge gelassen, ebenso meine Compostela. Fotos habe ich davon auch nicht. Effektiv würde ich aber nur 1,20€ sparen, also bezahle ich den vollen Preis.
Die Ausstellung ist erstaunlich gut und betrachtet Pilgern nicht als christliches oder auch nur per se religiöses, sondern als anthropologisches Phänomen. Das Hauptaugenmerk ist freilich auf dem Jakobsweg, aber andere Pilgerwege auf der ganzen Welt werden auch behandelt.
Die Stadt Santiago, so erzählt die Ausstellung, begann einfach mit einer kleinen Kultstätte, einem Mausoleum. Nachdem die Gebeine dem Apostel Jakobus zugesprochen wurden, wurde sie so genannt: "Locus Sancti Jacobi", also: "Ort des heiligen Jakob". Die ersten Pilger erreichten die Kultstätte. Man brauchte Herbergen, dann Krankenhäuser, Wirtshäuser, Brücken, Straßen. Um die Kultstätte wurde Kirchenteil um Kirchenteil herumgebaut, bis die heutige Kathedrale entstand.
Derweil verlor sich im Spanischen das "c" in "Sancti" und das "-bi" in Jakob, das "-co" wurde weicher, ein "-go". Also "Santiago", was immer noch sowohl in Castellano wie auch in Galego der Name für den Heiligen Jakob ist. Es gab hier nie eine Stadt "Santiago" ohne Pilger. Pilger erschufen nicht nur den Weg. Sie erschufen auch die Pilgerstätte, das Ziel, die Stadt, als Reaktion. Wie ein Sandkorn in einer Auster die Auster dazu bewegt, eine Perle zu bilden.
So viele Zweifel man auch haben kann ob die Herkunft der Gebeinen wirklich stimmt - der Weg ist echt. Die Pilgerschar ist echt. Und ich bin nun ein Teil dieser Tradition.
Das Museum erzählt auch davon, was sich im Laufe der Zeiten am Pilgern gewandelt hat - und was nicht. Was sich auf jeden Fall geändert hat ist: Pilger im Mittelalter haben die Jakobsmuschel, das Symbol für Jakobspilger, erst in Santiago erhalten. Sie mussten nun den langen und beschwerlichen Weg wieder zurück. Die heutigen, modernen Pilger, heften sich die Muschel bereits lange vor Santiago an und fliegen nach dem Erreichen des Ziels einfach nach Hause.
Aber die Rückkehr gehört ja auch dazu, denke ich. Wie in dem Pamphlet mit den Symbolen. Meine Pilgerfahrt ist noch nicht zu Ende. Ich muss wieder zu Hause ankommen - und das, was ich auf dem Weg gelernt habe, zu Hause anwenden. Mehr auf meine Freunde und Familie hören. Ihnen ein Freund und Begleiter auf ihrem Weg sein.
Dafür muss ich nichts verbrennen. Oder etwas beweisen. Ich muss nur im Moment sein und auch einmal beim anderen. Für die, die den Weg vor sich haben, kann ich Rat geben.
Die Idee, meine Geschichte in einem Blog aufzuschreiben, hatte ich schon sehr früh. Und das wäre bereits eine erste Konsequenz - oder ein erstes Ziel. Denjenigen, die nach mir gehen oder nicht gehen können den Weg zu zeigen. Zumindest einen Bruchteil, einen Schimmer von dem zu vermitteln, was den Weg ausmacht. Und festhalten, was mir widerfuhr. Als eine Art Opfergabe - nicht für einen Gott, sondern für den Weg und die anderen Pilger. Vielleicht nur das Gewäsch eines einzelnen Menschen. Aber wenn auch nur ein anderer sich durch die Darstellung berührt fühlt, sich dadurch bewegt fühlt, sein Glück auf dem Weg zu suchen, dann hätte ich mein Ziel erreicht.
Am nächsten Morgen fahre ich recht früh zum Flughafen und fliege nach England. In einer gemütlichen Wohnung in einem Randbezirk von London leiht mir mein Freund Justin einen Laptop. Ich lade meine Fotos hoch und fange an diesen Blog zu schreiben.
Mein Weg war einzigartig und doch einer von vielen, die Teil einer großartigen Tradition sind.
Mein Weg führte mich von Porto nach Santiago und bis ans Ende der Welt. Aber eigentlich begann mein Weg vor 15 Jahren in einem bretonischen Restaurant in Hamburg. Und er endet jetzt. Und hier. Mit diesen letzten Zeilen meiner Geschichte.
Vielleicht liest du das hier und denkst, dass du den Weg nicht gehen möchtest. Das ist in Ordnung. Wir alle müssen entscheiden was wir brauchen und was wir nicht brauchen.
Aber wenn du, irgendwann, irgendwo in deinem Herzen einen Funken des Willens hast, den Weg zu gehen, dann wisse, dass du dann bereits auf dem Weg bist. "Der Weg beginnt zu Hause", wie es heißt.
Und wenn du den Weg gehst, wisse, dass du ihn nicht alleine gehst. Du wirst begleitet werden. Von anderen Pilgern, die mit dir zusammen laufen. Die vor dir laufen. Die hinter dir laufen. Von den Anwohnern, die dich unterstützen oder dir auch nur eine Cola verkaufen. Wir, die Pilger, die vor dir liefen, trugen den Weg vor dir und gehen ein in die Masse derer, die die Jakobswege schufen, so wie die Vorfahren der Anwohner die Infrastruktur für uns und nun für dich errichteten.
Du kannst alleine gehen. Aber du wirst nicht einsam gehen. Wir alle sind der Weg.
Und auch, wenn du es jetzt vielleicht noch nicht vollständig verstehst oder begreifst: du gehst den Weg nicht nur für dich. Auch du erschaffst den Weg durch das Gehen. Auch du trägst damit die Tradition für die nächsten weiter. Und du gehst ihn auch für die, die ihn nicht gehen können oder sich auf dem Weg verloren haben oder sogar verstorben sind. Du gibst deinen Teil - und wirst mehr bekommen, als du denkst.
Also: "Nimm einfach deine Sachen und gehe los!"
Guten Weg!

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Anhang

Wer das elent bawen wel,  der heb sich auf und sei mein gesel  wol auf sant Jacobs straßen!  Zwei par schuoch der darf er wol  ein schüßel...