Donnerstag, 20. Juli 2017

Tag 16 - Der Mann am Ende der Welt (Olveira - Kap Finisterre)

Na avenida deixei lá a pele preta e a minha voz. Na avenida deixei lá a minha fala, minha opinião, a minha casa, minha solidão, joguei do alto do terceiro andar.
Auf der Straße ließ ich die schwarze Haut und meine Stimme. Auf der Straße ließ ich meine Sprache, meine Meinung, mein zu Hause, meine Einsamkeit, warf alles aus dem dritten Stock.
("A Mulher do Fim do Mundo", Elza Soares)
Vor mir liegt der Atlantische Ozean. Die Sonne blendet etwas. Irgendwo in weiter, weiter Ferne kommt Amerika. Doch hier, an diesem Kap, sieht man davon nichts. Es scheint tatsächlich, als sei hier die Welt zu Ende. Das Ende der Welt. Finis terrae. Finisterre. Was später dann in Galego zu dem Namen Fisterra wurde.
Hinter dem Leuchtturm stehen, sitzen und liegen einige Pilger, die den Ausblick genießen. Die Stimmung ist anders als in Santiago. Dort wurde gejubelt, wurden Gruppenfotos gemacht. Das hier ist aber nicht der Ort dafür, auch, wenn sich einige auf dem Kreuz vor dem Leuchtturm ablichten lassen. Dies ist der Ort um das Gefühl sacken zu lassen, am Ende angekommen zu sein. Auch hier gab es auf den letzten Metern keine gelben Pfeile mehr, aber die waren auch nicht notwendig, denn der Leuchtturm, das offizielle Ziel der Pilgerstrecke, war auch hier wieder von weitem sichtbar. Züge von Pilgern ziehen hin und wieder zurück zur Innenstadt von Fisterra. Die meisten hatten es so gemacht wie ich und ihr Gepäck dort in der Herberge gelassen. Die letzten 3km gönnten wir uns ohne Gewicht auf dem Rücken. Und schließlich erreichten wir alle den letzten Meilenstein.
Im Vordergrund der Meilenstein, im Hintergrund der Leuchtturm

Eigentlich wollte ich, Luciano zu ehren, den Bolero spielen. Aber alle Pläne, die ich für Fisterra hatte, waren jetzt hier, auf dem Felsen über dem Meer, wie weggeblasen. Auch das Verbrennen der Effigien. Wie Elvira mir bereits in Tamel gesagt hatte, stehen hier überall Schilder, die verbieten, Dinge hier anzuzünden. Und auf dem Weg zum Leuchtturm kam mehrfach die Guardia Civil vorbei, die Verstöße mit bis zu 3000€ ahndet - verständlich. Denn in der Nähe von Porto, gar nicht so weit von den Wäldern, durch die ich lief, gibt es gerade einen verheerenden Waldbrand mit bereits über 60 Toten. Und auch hier in Galizien hat die Trockenheit die angrenzenden Wälder zu einem Problem gemacht. Also lasse ich das Feuerzeug stecken. Stattdessen nehme ich mir einen Moment um über den heutigen Weg zu reflektieren.
Andere Pilger warnten am Morgen davor, dass es einen Abschnitt geben soll, wo 15km kein Café und keine Bar war. Eindringlich wurden wir gemahnt, genug Wasser bereit zu halten. Und die Warnung stimmte - aber wir hatten Glück. Denn kurz hinter der Abzweigung, wo die, die nach Muxia wollen, rechts abbiegen und die, die nach Fisterra wollen, links, tauchten wir in eine Nebelbank ein.
Den Nebel konnte man dort bereits erahnen
Nach Tagen der knallenden Sonne war das eine sehr willkommene Abwechslung. Nicht nur war es deutlich kühler und angenehmer, der Nebel fügte eine interessante Komponente hinzu. Man hörte andere Pilger lange, bevor man sie sah. Und wenn sie an einem vorbeigezogen waren, verschwanden sie wieder im Nebel.
Die Amerikaner, mit denen ich mich auf dem Weg nach Olveira angefreundet hatte, begegneten mir. Zuerst sah ich die Jungs, die gerade ein Lied dichteten auf einen anderen Pilger, den sie getroffen hatten, der an so ziemlich jede Verschwörungstheorie glaubt, die es gibt. Er ernährte sich von Pflanzen, die er am Wegesrand pflückte, und von Schnecken, die er von der Straße aufklaubte. Ich durfte die erste Strophe hören, die schon recht gut gelungen war. Das Lied basiert auf der Melodie von "Californication". Während sie weiter sangen, verschwanden sie vor mir in der Nebelwand. Die Mädels folgten hinterher. Auch sie dichteten ein Lied um den Jungs zu beweisen, dass sie das auch können. Es basiert auf der Melodie von "Sittin' on the dock at the bay" und geht um das Leben auf dem Jakobsweg. Aber auch sie wurden erst zu Schemen, dann zu Schatten und verschwanden dann.
Der Nebel machte auch die Sehenswürdigkeiten noch interessanter

Die Nebeltropfen waren angenehm auf der Haut, aber ich befürchtete, dass ich dadurch vom Kap aus keine gute Sicht auf die Sonne hätte, was schade gewesen wäre. Denn heute war Sommersonnenwende - genau zu diesem Termin wollte ich meine Pilgerfahrt beenden. Aber wie sinnvoll wäre es gewesen, wenn alles in Nebel getaucht gewesen wäre?
Glücklicherweise klarte es bereits kurz vor Cee auf, der ersten Küstenstadt auf dem Weg.
Es blieb aber angenehm kühl
Hier aß ich erst einmal etwas beim ersten Café nach der "Durststrecke" und machte mich dann durch die Innenstadt. An einer Stelle vergaß man aber Pilgerschilder anzubringen, so dass ich fast falsch gelaufen wäre. Eine Gruppe von Pilgern half mir, den richtigen Weg zu finden. Hier konnte man sich entscheiden durch die Altstadt oder an der Küste entlang zu laufen. Ich entschied mich für die Küste. Ein - sagen wir - interessanter Trampelpfad, der versteckt zwischen zwei Mauern den Hang hoch läuft, ließ meinen Knöchel sich wieder beschweren, aber ich wurde ermutigt durch die Schilder, die besagten, dass es nur noch etwa 15km sind.
Und ich mag solche versteckten Pfade
Es war gegen 16 Uhr, als ich endlich einen Pfad den Hang hinunter entdeckte, hinter dem man sehr deutlich das Kap und Finisterre sehen kann. Ich lief begeistert los - und legte mich sofort auf den Hintern, als ich in dem weichen Sand ausrutschte. Hauptsächlich war das nur Dreck, aber davon hatte ich jetzt jede Menge. Ich hielt mich an dem Gedanken fest, dass ich bald am Ziel sei und das dann nichts mehr sein würde, über das ich mir Sorgen machen müsste.
Wenigstens hatte ich eine schöne Aussicht beim Ausrutschen
Sorgen machte ich mir vielmehr darum, noch einen Herbergsplatz zu bekommen. Es war schon 16 Uhr, 17 Uhr als ich den Ortskern von Fisterra erreichte. Das war im Verhältnis zu den anderen Tagen reichlich spät, also suchte ich erst eine Unterkunft.
Fisterra ist zwar auch ein Badeort, aber mit einer ganz anderen Stimmung als Villanova. Hier gibt es einige versteckte Strände. Statt Campingplätzen gibt es viele Pensionen und Heidelandschaft. Auch die Fauna ist eine andere - an einer Wand entdeckte ich die bislang größte Echse, die ich auf der iberischen Halbinsel gesehen hatte.
Eigentlich wollte ich in der Herberge von Sonne und Mond unterkommen, die schon lange auf dem Weg geworben hatte. Von einer anderen Pilgerin erfuhr ich aber, dass die schon belegt war. Also buchte ich mich in der erstbesten privaten Herberge ein, die ich finden konnte. Sie hieß Oceanus - und das sollte dann auch der letzte Stempel in meinem Pilgerpass sein.
Beim Beziehen meines Betts hinterließ ich eine kleine Dreckspur, die ich schnell wieder entfernte. Und dann machte ich mich ohne Gepäck aber mit Stab auf den Weg zum Kap. 3km - 300 Meter aus der Stadt hinaus und 2,7km die Straße entlang.
Und nun bin ich hier.
Der Nebel hat sich extra für meine Aufnahmen verzogen gehabt. Er kam zurück, als ich das Kap verließ
Leere im Kopf. Die Tage zuvor war es klar, was zu tun war. Folge den gelben Pfeilen, schlafe, esse, folge den gelben Pfeilen weiter. Aber das war es nun. Ende. "Game over", also: "Spiel vorbei", wie es auf den T-Shirts im obligatorischen Souvenirladen zu lesen ist. Ich kaufe drei davon zusammen mit einem kleinen Rucksack und einem anderen Souvenir.
Auf dem Rückweg bemerke ich, dass ich meinen Stab irgendwo vergessen habe. Sei es drum. Ich brauche ihn nicht mehr. Ich hoffe, dass ein anderer Pilger ihn findet. Der Weg versorgt.
Mir begegnen einige meiner Bekannten in Fisterra. Simone, Emily, die Franzosen. Wir gratulieren uns und wünschen uns einen guten Heimweg.
In der Herberge dusche ich ausgiebig. Mir wurde ein Frotteehandtuch gestellt und ich genieße es, mich endlich mal wieder abrubbeln zu können, was mit meinem Mikrofaserhandtuch nicht möglich war. Wie jemand anderes schon sagte, es sind die kleinen Dinge. Als ich gerade auf meinem Bett sitze, kommt der Herbergsvater vorbei, der sich mir vorstellt. Ich frage ihn, wo man gut essen kann. Er empfiehlt mir ein Restaurant und bietet mir an, mir den Weg auf einer Karte zu zeigen. Ich sage, dass ich gleich zu ihm nach unten gehe - was ich aber nicht schaffe.
Von Olveira zum Kap Finisterre sind es etwa 37km. Plus die etwa 3km zurück in die Innenstadt sind es 40km, die ich heute gelaufen war. Die längste Strecke auf der ganzen Pilgerfahrt. Und nun fordern meine Beine ihren Tribut und versagen mir den Dienst. Ich kann von meinem Bett nicht aufstehen und liege erst einmal so da. Ich schlafe eine Runde, woraufhin es mir besser geht - aber die Rezeption ist nicht mehr besetzt und der Herbergsvater hat Feierabend gemacht.
Ich gehe also ohne Ratschlag los, kehre in ein beliebiges Restaurant ein und bestelle mein letztes Pilgermenü. Hähnchenfilet mit Pommes und Reis, dazu Salat.
Irgendwie wirkt es immer noch unwirklich. Das ist es jetzt. Plötzlich ist es vorbei. Morgen würde ich mit dem Bus zurück nach Santiago fahren und den Tag darauf nach London fliegen um Freunde zu besuchen. Mein Alltag, meine Freunde zu Hause, meine kleine Blase in der Welt waren durch mein Handy, das ich am Kap wieder einschaltete, wieder in greifbare Nähe gerückt. Ich rufe Struppi an und frage, ob er mich abholt. Er meint nein, ich solle es bis zum Ende schaffen. Ich sagte, dass ich das habe. Er gratuliert mir und wir reden darüber, wie es war.
Wie erzählt man das? Wie kann man all das vermitteln?
Was diese viele kleinen Begebenheiten und Begegnungen und Geheimnisse und Offenbarungen mit einem anstellen, aus einem machen?
Wie der Weg versorgt? Wie es ist, sich in die Hände dieser Tradition zu begeben?
Ich versuche es zu erzählen, aber dafür ist zu viel passiert. Dafür ist es zu sehr eine sehr eigene Erfahrung. Und so vertröste ich ihn etwas. Genauso wie andere Freunde, die mich nach einem Bericht fragen. Der kommt, sage ich. Der kommt.

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Wer das elent bawen wel,  der heb sich auf und sei mein gesel  wol auf sant Jacobs straßen!  Zwei par schuoch der darf er wol  ein schüßel...