Freitag, 30. Juni 2017

Tag 6 - Adeus, Portugal! (Rubiães - Valença)

Se o teu coração não quiser ceder, não sentir paixão, não quiser sofrer sem fazer planos do que virá depois, o meu coração pode amar pelos dois.
Wenn dein Herz nicht nachgeben will, keine Leidenschaft spüren will, nicht leiden möchte ohne Pläne zu schmieden für das, was danach kommt, kann mein Herz für uns beide lieben.
("Amar pelos dois",  Luisa & Salvador Sobral, Gewinner des ESC 2017)
Ich wache auf, als die ersten Vögel zwitschern. Fast schon automatisch trage ich meine Sachen aus dem Schlafsaal und ziehe das Bett ab. Erst im Essenssaal schaue ich auf die Uhr: es ist erst 3:20! Was mache ich jetzt? Zurück ins Bett? Das würde zu viel Unruhe verbreiten. Aber zum Loslaufen ist es zu dunkel - man sieht die Pfeile nicht.
Da ich aber auch nicht mehr müde bin, bleibe ich im Essenssaal, packe in aller Ruhe und lade dabei Kamera und Fotoapparat. Danach meditiere ich und schreibe mein Tagebuch weiter, insbesondere meine Gedanken zu "unnötig" und "nutzlos". Das Problem ist nicht, dass Pilger Reiseführer mitnehmen oder sehr viele Socken. Es ist nur dann ein Problem, wenn dies unbewusst passiert.
Bevor ich lospilgerte, habe ich mit Simon zusammen eine genaue Packliste zusammengestellt. Danach habe ich diese Liste erweitert um Dinge, die ich mitnehmen wollte. WOLLTE. Nicht musste. Wichtig ist nicht, dass wir Dinge mitnehmen, die wir eigentlich nicht brauchen. Wichtig ist, dass wir dies bewusst entscheiden und uns darüber im Klaren sind.
Ich hörte, dass gerade auf dem Camino Frances, also dem Hauptweg, der deutlich länger ist, sehr viele Menschen diese Erkenntnis zwischendrin haben und dann sich sehr vieler Dinge aus ihrem Gepäck entledigen - weil sie gesehen haben, wie wenig sie eigentlich wirklich benötigen. Und sie sehen, dass sie sehr viel Luxus unbewusst eingepackt haben und sich damit von deren Gewicht abhängig gemacht haben.
Was man aber wirklich braucht oder eben nicht - das ist sehr subjektiv, kann nur subjektiv sein. Vielleicht brauche ich sieben Paar Socken für mein Wohlgefühl? Vielleicht brauche ich einen Reiseführer um mich nicht verloren zu fühlen? Als ich meinen Mitpilgern zeigte, dass ich nur einen verkleinerten Ausdrucks eines Pamphlets habe, der bequem in meine Hemdtasche passt, in der nur die nächsten Stationen und die grobe Entfernung zu dieser verzeichnet sind, staunen sie mich mit offenem Mund an. Aber Alternativen, Herbergen, Informationen, all das findet man in den Reiseführern. Mein Totschlagargument ist: "Ich komme trotzdem an."
Damit möchte ich mich nicht über deren Weg stellen. Jeder hat seinen Weg. Und vielleicht brauchen sie den Reiseführer. Ich habe für mich entschieden, ihn nicht zu verwenden und fahre damit gut.
Jeder hat seinen Weg und das beinhaltet auch die Ausrüstung. Und damit auch die Reisevorbereitungen. Diese gehören mit zum Weg.
Und die eigene Zeit, die eigene Geschwindigkeit ebenfalls. Nicht zu hetzen, auf den Körper hören und den Körper das Tempo bestimmen lassen.
Kurz vor 5 Uhr geht die Straßenbeleuchtung an und ich beginne die letzte Etappe in Portugal durch das nächtliche Rubiães. Dies ist die letzte Etappe in Portugal. Die meisten, mit denen ich sprach, wollen am Abend in Tui unterkommen. Das ist die erste Stadt auf der spanischen Seite. Ich habe keine Eile, das Land zu verlassen und möchte die nächste Nacht noch in Portugal bleiben. Valença und Tui sind Nachbarstädte, die über eine Brücke miteinander verbunden sind. Die Grenze verläuft genau in der Mitte des Flusses. Von der Altstadt in Valença bis zur Altstadt von Tui sind es 10 Minuten Fußweg - in welchem der beiden Städte man also die Tagesetappe beendet ist nicht so wichtig.
Außerdem nehme ich mir vor, in ein Hotel zu gehen um einmal eine Nacht lang meine Ruhe und morgens ein ordentliches Frühstück zu haben.
Der Weg führt zunächst durch ein Feld und dann über eine alte, römische Brücke. Der Vollmond spiegelt sich im Wasser.
Die einzige Nachtaufnahme, die was taugt von diesem Morgen
Portugal will sich mit Stil verabschieden und führt den Weg weiter über die altrömische Straße XIX. Hochnebel beherrscht die Stimmung und in einem Waldstück sieht man atemberaubend schönes Wildwasser. Ich laufe wieder barfuß, die Steine bieten sich dafür wunderbar an.
Ich denke weiter über die Sache mit "unnötig" und "nützlich" nach. Vielleicht ist der Grund, warum die anderen so schockiert reagiert haben, als ich Reiseführer als "unnötig" bezeichnete, dass wir in vielen Dingen gerne so tun, als hätten wir keine Wahl. Es ist einfacher etwas hinzunehmen, Konventionen, Dogmen, soziale Normen, als Verantwortung zu übernehmen und bewusst sich für das eine oder andere zu entscheiden. Und so tun wir vor uns selbst, als hätten wir keine Wahl, ja, wir sehen gar nicht mehr, dass wir eine Wahl haben und sagen dann, dass wir mit etwas leben müssen - auch wenn das gar nicht zutrifft.
Und natürlich gilt das nicht nur für die anderen. Natürlich habe ich auch Dinge dabei, die ich für notwendig hielt - und mittlerweile als Luxus angesehen habe. Und natürlich habe ich auch Dinge dabei, auf die ich hätte verzichten zu können - ohne, dass ich das schon gemerkt habe.
Lustig würde ich mich deswegen nicht über die sieben Paar Socken von Nicholas machen. Vielleicht braucht er sie wirklich. Vielleicht braucht er sie nicht, aber er braucht die Illusion, sie zu brauchen. oder die Erkenntnis, sie doch nicht zu brauchen. So oder so ist es für mich unsichtbar, ob dies für ihn einen Nutzen hat oder nicht - so, wie es für andere nicht offensichtlich ist, was für mich Nutzen hat oder nicht. Und mir selbst ist es auch oft nicht klar.
Ich treffe wieder auf Joost und Nanette und wir unterhalten uns über Joosts Firma - er baut Systeme zur Identitätsprüfung zum Beispiel für Flughäfen. Um mit den beiden mithalten zu können, ziehe ich die Schuhe wieder an. Wir sind auf der Suche nach einem Café - das erste ist zwar geschlossen, dafür bietet die nahegelegene Kirche im Nebel mit dem dahinterliegenden Mobilfunkmast ein faszinierendes Bild.

Leider hängen in den interessantesten Winkeln immer Telefonkabel...
Bei einem Steinhaufen halte ich etwas länger an, so dass die beiden voraus laufen. Ich ziehe die Sandalen wieder aus und laufe bis zum nächsten Café, wo ich nicht nur sie, sondern auch die Schwedinnen und Eleonore, die Belgierin, wiedertreffe. Elisabeth hatte sich mir gegenüber am Vortag als Diakonin der schwedischen Kirche geoutet und wir hatten viel über mein Verhältnis zu Religion gesprochen und dass ich Atheist bin. Wir schneiden das Thema über mein Käsebrötchen noch einmal kurz an.
Ich lasse die Sandalen sehr lange aus und ziehe sie erst wieder an, als nach einer Weile des Laufens meine Sohlen sich wieder müde anfühlen. Ich sichere mir zu, es immer wieder zu versuchen.
Meine nächste Café-Pause ist in Cerdal, einem Dorf kurz vor Valença - ich sage Café, aber es ist nur eine Bude auf einer Wiese. Ich treffe da zwei Deutsche wieder, die ich schon in Rubiães getroffen hatte. Wie einige erzählen sie mir, dass sie schon einmal den Frances gelaufen sind und der besonderer war - mehr "Originale" und irgendwie tiefer. Ich entgegne, dass es vielleicht daran liegt, dass es für sie der zweite Camino ist. Sie geben mir Recht: "Einige Dinge sollte man nur einmal machen."
Tatsächlich ist mein Gedanke aber, warum sie nicht jetzt im Moment sind. Also: warum nicht jetzt den Augenblick genießen, statt ihn sich madig zu machen mit dem Vergleich mit früheren Erlebnissen? Und damit es auch noch anderen madig machen?
Kurze Zeit später komme ich an einer Herberge mit Café vorbei, wo die Japanerinnen sitzen. Da ich mich mit den beiden nicht unterhalten hatte, hole ich das nach. Der Hospitaleiro ist ein junger Mann aus Paderborn, der hier "hängengeblieben" ist. Er gibt mir nicht nur einen Stempel, er malt den sogar aus.
Leonie und Tim kommen ebenfalls - Tim versichert sich mehrfach, dass seine Aussagen auch nicht falsch angekommen sind. Wir machen ein paar Bilder und ziehen dann unabhängig voneinander weiter.
Dem Wegweiser nach habe ich schon über die Hälfte des Weges nach Santiago hinter mir - aber das heißt leider nichts
Am Stadtrand von Valença gönne ich mir in einem Restaurant eine lokale Spezialität, eine Francesinha. Das ist ein Toast mit Steak, Würsten und Schinken, die mit reichlich Käse überbacken wurden. Dazu gibt es ein Kilogramm Pommes. "Francesinha" bedeutet eigentlich "kleine Französin", aber als Elvira in Tamel eine bestellt hatte, sprachen wir ob der großen Portion eher von "einer französischen Kleinfamilie". Das trifft in diesem Restaurant auch zu und ich kriege nicht alles runter. Auf dem Weg zur Toilette bleibe ich mit der Uhr, die ich mir am ersten Tag in Porto gekauft hatte, hängen, das Armband reißt und die Uhr springt in mehrere Bestandteile auf dem Boden.
Gut. Sie war billig und lief ständig nach - ein großer Verlust war es nicht, da meine Kamera mir auch die Zeit anzeigte und deutlich zuverlässiger. Das machte die Uhr zu Luxus. Und etwas, was ich nicht brauche.
Ich laufe weiter und treffe auf zwei deutsche Pilger. Die eine fragt mich, ob das mein ganzes Gepäck sei. Ich bejahe das. "Dann hast du schlau gepackt - ich habe nicht schlau gepackt, ich muss es mir transportieren lassen." Ich danke innerlich noch einmal Simon für seine Hilfe.
Eine Sache, die ich sicherlich nicht vermissen werde - zumal das in Galizien leider auch häufig vorkommt - sind die Hunde. Sehr viele Grundstücke werden von Hunden bewacht, die sofort loskläffen, wenn man sich auch nur einen Nanometer zu nahe an den Zaun traut. Etliche Hunde springen auch auf die Mauer um von da besser herunterkläffen zu können - gerne auch erst in dem Moment, wo man daran vorbeiläuft, damit man auch ja einen ordentlichen Schreck kriegt.
Wir waren einigermaßen froh, dass dem Hund nicht aufging, dass er da einfach drüberspringen kann
Aber schließlich erreichte ich die Innenstadt von Valença. Eine Infotafel besagt, dass die Herberge etwas ab vom Weg und vor allem nicht in der historischen Altstadt liegt. Ich fühle mich durch beides in meiner Entscheidung, ein Hotel zu suchen, bestärkt. Ich laufe durch die Altstadt, bis ich auf ein Gebäude treffe, an dem "Pousada de Valença" steht und nach etwas gastronomischem aussieht. Ich gehe hinein und frage, ob es hier ein Hotel gibt. "Wir SIND ein Hotel" kommt die Antwort vom Rezeptionisten. Sie haben auch noch ein Zimmer, allerdings für 80€. Ich nehme es und gehe hinein. Und es ist zum ersten Mal seit einer Woche still. Kein Straßenlärm, keine Hähne, keine bellenden Hunde, keine Vögel, kein Klacken von Wanderstöcken, keine sich unterhaltenden Pilger, kein "Buen camino" oder "Bom caminho" oder irgendwas. Einfach nur Stille. Und ich finde es etwas unheimlich. Aber nur bis ich entdecke, dass mein Bad eine Badewanne hat. Ich springe sofort rein und sorge dafür, dass einmal der gesamte Dreck von mir runterkommt. Das war nötig, denn ich war so dreckig, dass ich die braunen Flecken danach nicht richtig mit Wasser weggespült bekomme. Ich lege mich auf das Bett und wache erst dreieinhalb Stunden später auf - das frühe Aufstehen forderte seinen Tribut.
Valença ist nicht ganz der Abschied, den ich mir von Portugal gewünscht habe. Die Stadt ist zwar eindeutig hübsch und architektonisch erkennt man hier viel wieder, insbesondere die verkachelten Häuser. Außerdem ist die Altstadt in einer alten Wehranlage aufgebaut, die gut erhalten und gepflegt ist. Aber: es reihen sich ein Ramschladen nach dem anderen. Weil man gemütlich von Spanien aus hierhin schlendern kann, sind sehr viele spanische Tagestouristen in den Straßen, die in dem deutlich ärmeren und damit billigeren Portugal Textilien einkaufen wollen. Und entsprechend hat fast jeder Laden Strandtücher, Badelaken, Bettwäsche und ähnliches im Angebot. Wir Pilger sind Zielgruppe Nummer 2, wo sich aber wieder die Frage stellt, was ich denn hier kaufen soll um es dann bis Fisterra mitzunehmen.
Einer der wenigen Winkel ohne große Badetücher
Ich spaziere etwas herum und esse mir ein Eis - der Eisverkäufer begrüßt mich spontan auf Spanisch. Danach überlege ich kurz, ob ich mir die Wehranlagen näher ansehen soll, die wirklich interessant aussehen und frei begehbar sind.
Und hier ist auch kein Mensch...
Aber ich entschließe mich, lieber für den nächsten Tag auszuruhen.
Valença ist beeindruckend schön und es ist interessant, wie es die Portugiesen schaffen, mit mittelalterlichen Straßen durch mittelalterliche Stadttore modernen Verkehr zu leiten. Aber ich brauche gerade die Ruhe, auch wenn ich jetzt schon den Kontakt zu den anderen Pilgern vermisse.
Zwei Herbergen sind in unmittelbarer Nähe des Hotels, die wohl günstiger gewesen wären. Verdammt. Jetzt wäre ein Reiseführer nützlich gewesen...
Vor dem Schlafen schaue ich den Film "Outlander" auf einem Fernsehkanal, der die Filme im Original mit portugiesischen Untertiteln zeigt. Es geht um einen Außerirdischen, der bei den Wikingern landet und mit ihnen zusammen ein Monster jagt. Der Film ist leicht verdaulich, aber irgendwie relevant, nur dass ich bei der Müdigkeit nicht bemerke, warum. Mir fällt nur, dass das Gebrüll des Monsters wie das eines Minotaurus klingt.

Donnerstag, 29. Juni 2017

Tag 5 - Wer früher stirbt, ist länger tot (Ponte de Lima - Rubiães)

Did you ever think as a hearse goes by, that you may be the next to die?And your eyes fall out, and your teeth decay, And that is the end of a perfect day. 
Hast du je gedacht, während ein Leichenwagen vorbeifährt, dass du der nächste sein könntest, der stirbt? Und deine Augen fallen aus und deine Zähne verrotten und das ist das Ende eines perfekten Tages. 
(The Hearse Song, unbekannter Ursprung)
Die italienischen Fahrradpilger im Stockwerk unter uns machen nach dem Aufwachen einen solchen Lärm, dass auch ich wach werde. Christine, eine Schweizerin, mit der ich mich am Vortag unterhalten hatte, Eleonore, die Belgierin, und ich machen uns fertig. Ich nehme die Sandalen aus dem Schrank mit den Stiefeln, aus einer Laune heraus ziehe ich sie aber nicht sofort an, sondern trete barfuß auf die Straße. Ich werfe einen letzten Blick über den Fluss und die Brücke auf Ponte de Lima und schlendere dann den Weg entlang.

Zu jeder Tageszeit einfach einmalig schön
Einige Pilger haben sich in das benachbarte Café gesetzt, aber ich hatte mir im Laden am Vortag mein Frühstück geholt, also ziehe ich weiter. Der Weg führt zunächst über eine Umleitung und dann über einen Schotterweg, bei dem ich die Sandalen wieder anziehe. Doch direkt danach gibt es eine alte mit Felsbrocken abgesetzte Strecke, wo ich sie sofort wieder ausziehe. Die Felsen fühlen sich wundervoll unter den Sohlen an.

So ging das eine Weile - man beachte die Felsen links
Nachdem der Abschnitt vorüber ist, ziehe ich die Sandalen wieder an, aber das erste Mal barfuß laufen nach dem mühsamen ersten Tag war eine Wohltat.
Ich treffe auf eine Thüringerin, die heute noch bis Tui in Spanien laufen möchte, eine Stadt, die ich erst am übernächsten Tag erreichen möchte. "Zur Not nehme ich ein Taxi," erklärt sie, "ich habe reserviert und muss rechtzeitig da sein." Das ist das Problem mit der Planerei - sie lässt dann auch nicht viel Platz für "einfach laufen und sehen, wie weit man kommt".
Ich treffe auf die Schwedinnen kurz bevor ich mal eben in den Wald gehe. Sie haben bei dem Lärm vom Musikfestival auch nicht schlafen können. Sie hatten kein Hotel bekommen, sondern sind bei einer Privatfamilie untergekommen - ähnlich wie ich in der ersten Nacht.
Ich laufe alleine weiter und treffe auf ein Schild - ein Café wirbt mit Frühstück. Vollkommen überraschend genieße ich das erste Mal seit ich in Portugal bin ein echtes Frühstück mit Spiegeleiern und Speck, einem Brötchen, O-Saft und einem Tee. Gesättigt und zufrieden laufe ich los, als gerade ein portugiesischer Pilger ebenfalls in das Café geht. Später überholt der mich. Ich spreche ihn an und sage auf Portugiesisch: "War das nicht ein fantastisches Frühstück?" Er antwortet: "Ich habe nur einen Kaffee getrunken." Perlen vor die...
Anfangs führen die Pfeile über Feldwege, dann geht es aber in den Wald. In der Nähe eines Steinhaufens treffe ich Sabine und Thomas wieder. Sie erzählen mir, dass sie nach dem Gipfel mit dem Bus abkürzen müssen - sie haben sonst nicht genug Zeit, um Santiago zu erreichen.
Im Steinhaufen sind viele Steine mit kleinen Botschaften und einem Vermerk, wer das geschrieben hat und von wo er ist. Ich schreibe auch etwas und lege es dazu.

Mein Name, mein Wohnort, das Datum und: "Guten Weg!" auf Portugiesisch
Ich mag diese Steinhaufen - auch wenn einige es als Müllhalde für ihre Visitenkarten missbrauchen.
Es geht immer steiler bergan auf einer alten, römischen Straße. Rechts rauscht ein Fluss Richtung Tal. Immer mal wieder öffnet sich der Weg in eine kleine Ortschaft, nur um einem atemberaubende Aussichten in die Berge hinein zu geben.

Einziger Wehmutstropfen: portugiesische Kirchtürme sehen alle gleich aus - wer es nicht glaubt, einmal reinzoomen

Nach einer Weile ist der Weg nicht einmal mehr ein Schotterweg durch den Wald, sondern besteht nur noch aus Geröll. Der Anstieg ist echt schwierig und ich muss sehr vorsichtig sein, nicht wegzurutschen. Ich erreiche ein Kreuz, an dem viele Steine niedergelegt sind.
Diesmal mit Bild
Ich gehe fälschlicherweise davon aus, dass es sich um das Cruz dos Mortos, dem Kreuz der Toten handelt. Tatsächlich liegen hier auch viele Steine, in denen offensichtlich Menschen gedacht wird, viele Steine sind aber immer noch allgemeine Grüße oder Sinnsprüche.
In der Antike gab es viele Rituale für die Reinigung oder für spirituelle Sinnsuche. Die meisten hatten mit sogenannten Mysterienspielen zu tun, das war eine Mischung aus Theater und magischem Ritual. Der Sinn lag darin, einen symbolischen Tod und eine symbolische Wiedergeburt zu erzeugen. Durch eine besondere spirituelle Erfahrung sollte das alte Ich merklich aufhören zu existieren - um einem neuen Ich, einem geläuterten oder weiserem Ich Platz zu machen, das in demselben Moment geboren wird. Das nennt man auch heute noch Katharsis und es ist genau das, was eigentlich jeder, der wie ich aus spirituellen Gründen pilgert, möchte. Der Tod von einem alten Ich. Der Weg in das Labyrinth um auf den Minotaurus zu treffen, das Ungeheuer, das für unsere animalische Seite steht, unsere Seite, die nur reagiert, nicht reflektiert ist, nicht aus Weisheit sondern aus einfachen Emotionen heraus handelt, die in Ängsten gefangen ist. Dieser Mythos ist griechisch-römisch, aber ähnliche Legenden finden sich in allen möglichen Kulturen. Beowulf und Grendel. Siegfried und der Drache. Thor und die Eisriesen.
Der Held sucht das Ungetüm auf und erschlägt es. Und durch das Erschlagen macht er in sich Platz für ein neues Ich, das sanfter, stärker, mutiger und weiser ist.
Entgegen der weitverbreiteten Meinung ist "Labyrinth" kein Synonym für "Irrgarten". Ein Labyrinth sieht auf dem ersten Blick ähnlich aus, hat aber einen entscheidenden Unterschied: egal wie verworren das Labyrinth ist, es gibt nur einen Weg. Man kann sich in einem Labyrinth nicht verlaufen. Der Weg ist klar - genauso wie auf dem Jakobsweg. Man muss ihm nur folgen. Wer mir das nicht glaubt, der soll einfach mal Bilder vom Labyrinth von Chartres ansehen, das in der dortigen Kathedrale zu finden ist. Viele Menschen gehen da hin um dieses abzulaufen - es ist aber nur ein einziger Weg ohne Abzweigungen. Man kann ihn nur rein oder raus laufen.
Habe ich schon meinen Minotaurus gefunden? Habe ich schon eine Ahnung, was mein Monster ist?
Nein. Aber ich habe schon den Eindruck, dass mich der Weg verändert hat. Ich denke viel darüber nach, was man eigentlich so im Rucksack mit sich herumschleppt und was nicht. Was ist nötig und was ist nützlich? Und was bedeutet diese Erkenntnis für mich?
Die Erkenntnis, dass Dinge, die nützlich sind, nicht automatisch auch notwendig sind, ist eigentlich einfach, fast banal. Aber irgendwie merke ich, dass sie für mich noch eine tiefere Bedeutung hat. Dass da etwas ist, was ich noch nicht ganz gesehen habe, etwas tiefergehendes. Etwas, was am Rand tönt. Wie das Gebrüll eines Minotaurus'.
Ich hebe einen Stein auf, schreibe eine Botschaft darauf und lege ihn auf den Steinhaufen. Dann ziehe ich weiter.

Hey, ich habe nicht behauptet, dass das eine neue Erkenntnis ist
Der Gipfel entschädigt einen für den mühsamen Aufstieg mit einer spektakulären Aussicht. Sabine und Thomas, Christine und Nicholas, die Amerikaner und ich genießen die kurze Pause auf dem Pass. Ein Schild versprach zwar frisches Trinkwasser, den Hahn finden wir aber leider sehr spät - und er ist auch kaputt. Aber das ist gerade nicht so wichtig. Wichtig ist, dass es von hier aus nur noch bergab geht. Die schwierigste Strecke des Weges liegt hinter uns.

Ich habe auch Fotos der Geröllstrecke, die sind aber nichts für schwache Nerven
Ich treffe am Gipfel auch auf Klaus, einem anderen Pilger aus Magdeburg, mit dem ich zusammen den Abstieg mache. Der Weg ist schwierig, aber im Vergleich zu dem Aufstieg kinderleicht. Unterwegs treffen wir dann auch auf das richtige Cruz dos Mortos. Dass es das richtige Kreuz der Toten ist, ist sofort offensichtlich, denn die Mauer am Kreuz ist übersät mit Bildern von Menschen und deren Todesdaten und Steinen, auf die man Namen und Jahreszahlen aufgebracht hat.

Einmal drauf klicken - man sieht es recht gut
Hier geht es um den echten Tod. Nicht den symbolischen. Sondern den Tod eines geliebten Menschen, der nun nicht mehr mit einem durch das Leben geht. Einige Steine deuten an, dass es sich bei dem jeweiligen Verstorbenen um einen Pilger handelte. Ein Stein hält einen Zettel. Bei näherem Hinsehen ist es ein Terminzettel von einem Arzt. Es stehen dort drei Termine pro Woche über einen Zeitraum von drei Monaten, der Zettel ist voll. Vermutlich Chemotherapie - und die Art, wie derjenige an seinen geliebten Menschen erinnern will, berührt mich mit am meisten durch seine ehrliche und harte Schlichtheit.
Immer wieder stehen dort Nachrichten in verschiedenen Sprachen, auch auf Deutsch.
Ich entschließe mich, auch meinen Toten hier zu gedenken und schreibe auf einen Stein den Namen meines Vaters und den von Christian, einem guten Freund von mir, der in demselben Jahr an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb.
"Der Weg ist der große Gleichmacher," habe ich öfters Pilger sagen hören. Denn egal ob arm oder reich, ob berühmt oder unbedeutend, alle Pilger laufen in dieselbe Richtung. Alle laufen wir den Jakobsweg - jeder auf seine Weise versteht sich. Aber dennoch haben wir die gleichen Probleme und das gleiche Ziel.
Ich muss daran denken, dass man im Mittelalter den Tod als den großen Gleichmacher bezeichnet hatte. In der Feudalgesellschaft war das die große, harte Wahrheit: egal ob arm oder reich, berühmt oder unbedeutend - wir werden alle sterben und wir nehmen nichts mit in den Tod. Damals, als man noch an Wundstarrkrampf, Tollwut und Pest starb und man gerne unter Qualen und Schmerzen dahinsiechte und dabei sich immer wieder aufbäumte, nannte man das den Totentanz. Der Schnitter, Gevatter Tod, kommt, um mit dir zu tanzen und du kannst die Aufforderung nicht ablehnen. Egal, ob du König oder Bettler bist. Musik wurde zu diesem Ball komponiert, Gedichte und Gemälde beschreiben das Unvermeidliche, aber in seiner Unvermeidlichkeit auch ehrliche und gütige. Denn egal, wer für dich im Leben da war, der Schnitter ist es am Ende für uns alle. Mal sanft und mal hart. Du kannst es hinauszögern. Du kannst es dir angenehmer gestalten. Aber entkommen kannst du nicht.
Klaus und ich laufen weiter, bis ich auf einen Gebirgsbach treffe. Nach dem ganzen Nachdenken über den Tod trifft mich eine ganz andere, irdische Erkenntnis: meine Füße strotzen vor Dreck und sind müde und hier ist ein frischer, klarer Bach und ich will unbedingt meine Füße da rein halten und sie waschen. Ich lege mir mein Handtuch bereit - Klaus will solange nicht warten und geht weiter, aber ich bereue meine Entscheidung nicht - das Wasser ist unendlich erfrischend und ich kann meine Zehen wieder sehen.
Klaus treffe ich in einem Café wieder, wo auch die Amerikaner sich gerade aufmachen. Ich kaufe einen Snickers, Eis, eine Zitronenlimonade und drei Eistee und kippe alles in mich hinein, bis ich mich wieder klar im Kopf fühle. Danach laufe ich mit Klaus nach Rubiães hinein. Am Wegesrand finde ich wieder hübsche Zeichnungen von... Hunden? Füchsen? Man weiß es nicht. Mir gefallen die Symbole sehr.

Irgendwie haben sie was von Höhlenmalerei...
In der Herberge treffe ich auf die Schwedinnen und Susann, die Dänin. Erstaunt frage ich sie, was sie hier machen, schließlich sagten sie ja, dass sie nicht in Herbergen gehen. Leider wäre hier alles ausgebucht gewesen, meinten sie, also müssten sie wohl oder übel in die Herberge. Nicholas, der Kanadier, ist auch da. Die Herberge hat den Luxus einer Waschmaschine und als ich die verwenden will, scherzt er, dass ich noch sehen muss, ob da Platz ist, da er sieben Paar Socken mit hat und die alle aufgehängt hat. Ich denke mir, ohne es auszusprechen, dass jeder seinen Luxus hat, dessen Gewicht er trägt und unterhalte mich mit den Schwedinnen über meine Gedanken zu "unnötig" und "nützlich". Wichtig ist natürlich: jeder hat seine eigenen Definitionen. Nur ich kann sagen, was für mich nötig und was für mich unnötig ist.
Wir gehen zusammen mit Klaus essen in einem Restaurant, das nicht weit entfernt ist, in der Nähe einer anderen Herberge, in der wir Sarah und die Amerikaner finden. Im Restaurant treffen wir auch Joost und Nanette. Als wir fertig gegessen haben und uns auch den Nachtisch gegönnt haben, kommt Eleonore, die Belgierin, und fragt auf Französisch, ob das Essen gut sei. Ich sage ja und erkläre ihr, was es gibt. Der Kellnerin gefällt das sehr und als ich nach den Desserts gefragt werde, souffliert sie mir auf Portugiesisch und ich versuche so gut es geht auf Französisch zu übersetzen.
Zurück in der Herberge schauen wir gebannt zu, wie ein portugiesischer Arzt Susann verarztet. Diese hat stolze sieben Blasen, die sie plagen. Einige drücken dabei auf sehr empfindliche Stellen. Der Arzt legt mit Nadel und Faden Drainagen und quiekt immer mal wieder vergnügt auf Englisch: "Oh... DAS wird jetzt weh tun." Ich lenke Susann so gut es geht damit ab, dass ich sie über dänische Fernsehsendungen ausfrage.
Das Schuhwerk ist natürlich eine Sache des eigenen Wegs. Ich bin bislang der einzige Pilger, den ich gesehen habe, der in Sandalen unterwegs ist. Einige tragen Turnschuhe, die meisten tragen Wanderschuhe. Viele verwenden dabei noch zusätzlich Wanderstöcke, mit denen sie in einem bestimmten Takt klicken. Aber irgendwie hat fast jeder bereits mit größeren Problemen zu kämpfen gehabt. Ich hatte in den ersten drei Tagen einen leichten Muskelkater im Spann in beiden Füßen und eine kleinere Blase, die ich in Ponte de Lima verarztet hatte. Außer diesen beiden Sachen ging es mir gut, auch, wenn ich genau wie alle anderen Pilger abends dann nicht mehr ordentlich gehen konnte und mehr watschelte als lief. Aber ja. "Hoffentlich bleibt das so!" denke ich und schlafe ein.

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Mittwoch, 28. Juni 2017

Tag 4 - Über sieben Brücken musst du gehen (Tamel - Ponte de Lima)

Allein zu sein! Drei Worte, leicht zu sagen, und doch so schwer, so endlos schwer zu tragen.
(Adelbert von Chamisso)
Ich wache mit dem ersten Hahnenschrei auf. Draußen ist es noch dunkel, aber ich fühle mich erfrischt genug. Leise steige ich vom Hochbett herunter und trage meine Sachen in den Flur um sie dort einpacken zu können, ohne die anderen zu wecken. Joost und Nanette, die beiden Niederländer, sind schon wach, sowie eine Deutsche - wir alle packen unsere Sachen, wünschen uns einen guten Weg und gehen unabhängig voneinander los. Direkt vor dem Hinterausgang steht der Nachbar und verkauft Obst aus einem Pappkarton heraus. Ich kaufe eine Banane und laufe los.

Ich sagte doch, dass die Kirche durch das grüne Kreuz etwas hässlich ist...
An einem Springbrunnen bleibe ich sitzen und meditiere. Aus dem Lieferwagen des Bäckers, der am Vortag vor der Herberge hielt, hatte ich ein Baguette, das ich jetzt mit der Banane zusammen als Frühstück futtere und mit Eistee runterspüle. Immer noch kein gutes Frühstück, aber man nimmt, was man kriegen kann.
An einem Bahnübergang gibt es eine Warnung für Pilger und andere Wanderer, nicht in großen Gruppen über die Schrankenanlage zu gehen, da das von den Signalen ablenken kann.

ACHTUNG - Halte an - schaue - horche
Ich kann dem Schild nur beipflichten. Es war schön eine Weile mit Elvira und den Niederländern zu laufen - aber man nahm unweigerlich weniger wahr. Weniger von dem, was in der Umgebung ist, was in einem selbst ist, was der Weg ist, was er mit einen macht und wie sich die Füße anfühlen. Alleine war das alles wieder da.
Irgendwo an einem Feldweg höre ich, wie es in meinem Rucksack vibriert. Mein Handy, das seit Porto aus war, hatte sich eingeschaltet - wohl, weil irgendwas auf den Ein/Aus-Schalter gedrückt hat. Entnervt fische ich es aus dem Rucksack um es wieder auszuschalten. Das gelingt mir, aber ich sehe noch, wie mir Felix, ein guter Freund, eine Nachricht über Facebook geschickt hatte um mir viel Spaß und gute Gedanken auf dem Weg zu wünschen. Ich ärgere mich maßlos. Nicht, weil er mir die Nachricht geschickt hat oder über den Inhalt - darüber freue ich mich. Aber darum geht es - sie bringt mich sofort nach Hause und in Gedanken bin ich nicht mehr hier, auf dem Weg, sondern bei meinen Freunden, den Menschen, die ich lieb habe. Aber da will ich jetzt gerade gar nicht sein. Es war eine bewusste Entscheidung, alleine zu pilgern.
Die letzten sieben Jahre wurden durch meine Freunde geprägt - und diejenigen, die ich dafür hielt. Letztere nutzten mich aus, verarschten mich, ließen mich im Regen stehen und kannten nur ihre eigenen Gefühle im Umgang mit mir. Aber gerade auch in letzter Zeit hatte ich immer wieder Hilfe erfahren, es haben sich immer wieder Menschen hervorgetan und bewiesen, dass sie wahre Freunde sind. Das einzige, was für mich blieb, war zu sehen, was ich eigentlich für ein Mensch bin und wie ich fortgehen möchte. Dafür brauchte ich aber die Ruhe und den Abstand, dafür durfte ich nicht in Gedanken zu Hause sein - darum hatte ich mich zur Pilgerfahrt aufgemacht. Aber nutzt es einem, für eine Weile ein Eremit zu sein, wenn einem die Bekannten aus der Heimat jederzeit Bilder von dem schicken können, was sie zu Mittag hatten? Darum war für mich von Anfang an klar, dass ich das Handy und damit Facebook, Whatsapp und Co ausgeschaltet lassen musste.
Freilich sehen das die meisten Pilger anders. Die deutsche Kleinfamilie, die ich in Barcelinhos traf, sagte, sie wäre aufgeschmissen, AUFGESCHMISSEN ohne die App, die ihnen sagt, wo der Weg lang geht und wo man Herbergen findet. Auch das Mädchen hing nach dem Abendessen nur noch am Handy um mit dem Freund und Freundinnen zu sprechen. Selbst Elvira empfängt Nachrichten von ihren Freundinnen, mit denen sie in Deutschland immer verreist und Touren macht.
Die Amerikaner haben sogar ihren Laptop dabei und richten über das Handy jeden Abend einen mobilen Hotspot ein. Eines der Gründe, warum sie die Transportdienste in Anspruch nehmen, denn sie wollen das nicht alles schleppen.
Ich will nicht sagen, dass das gut oder schlecht ist. Es ist anders. Jeder geht seinen Weg, jeder trifft seine Entscheidungen. Für mich ist nur sehr schnell klar, dass für meinen Plan, eher im Moment zu sein, es die richtige Entscheidung war, elektronische Abstinenz zu üben.
Ich erreiche die Casa Fernanda, eine weitere private Herberge mit einem wunderschönen Garten, der gerade von der Herrin des Hauses gepflegt wird. Ich lasse mir einen Stempel geben. Dies ist Elviras Tagesziel - ich gehe daher davon aus, dass ich sie nicht mehr wiedersehen werde.
Ich laufe weiter über Feldwege. Der Hochnebel, der am Morgen noch um die Berge zog, verzieht sich langsam. Der Weg ist recht einfach zu laufen und gut markiert - nur an einer Stelle brauchte ich etwas Hilfestellung.

Ohne die Stöckchen hätte ich den gelben Pfeil wirklich nicht gesehen
Am Café und Restaurant Viana in Vitorino de Piães rächt sich dann das frühe Aufstehen, denn ich habe zwar einen Bärenhunger, aber die Küche öffnet erst um 12 Uhr - und es ist erst 10:30. Frustriert hole ich mir wieder ein Teilchen und einen Kakao.
Dafür geht es recht flott voran. Ab Facha finden sich nun regelmäßig Schilder, die einem nicht nur die Entfernung bis Ponte de Lima angeben, sondern auch, wie lange man dafür noch laufen muss. Erstaunt darüber, dass die im Vorfeld wissen, wie schnell ich laufe, laufe ich weiter. Der Weg führt zunächst durch einen Wald. Schon fast stereotypisch hübsch werde ich von balzenden Schmetterlingen umflattert und viele Blumen blühen um die Wette.

Das einzige gute Bild, das ich von den Tieren aufnehmen konnte
Ich mache unter einem Baum Rast, wo mir auch Sabine und Thomas wieder über den Weg laufen, die mir in den tollsten Farben von den Casas do Rio vorschwärmen, immer mit dem Vermerk: "Also, das ist schon kein Pilgern mehr... das war purer Luxus..." Ich gönne es ihnen.
Als der Weg durch eine Siedlung führt, sehe ich ein Kachelbild des Heiligen Rochus. Davor haben viele Pilger Steinhaufen gelegt. Ich denke wieder über den Sinnspruch nach, "Wir schaffen den Weg durch das Gehen", krame einen Stein aus meiner Tasche, den ich aus Deutschland mitgebracht hatte, und lege ihn zu den anderen.

Wer herauskriegt, welcher Stein von mir ist, kriegt'ne Portion Pommes
Gerade als ich fertig bin, treffe ich wieder auf die Tschechin und wir laufen gemeinsam weiter. Sie heißt Barbara und pilgert, da sie und ihr Partner sich nach sieben Jahren Beziehung getrennt hatten. Obwohl dies einvernehmlich war und sie noch gut befreundet sind, hatte sie das in ihrem Leben erst einmal vor ein großes Loch gestellt. Sie wollte pilgern um sich Klarheit zu verschaffen. Nachdem sie jedoch alles gebucht und in die Wege geleitet hatte, hatte sie nun ihren jetzigen Freund kennengelernt und wollte erst nicht mehr laufen. Doch jetzt hat es sich für sie gewandelt - sie wird zwei Nächte in Ponte de Lima verbringen, denn sie hatte auf der Strecke ihren Ausweis liegen gelassen. Ihr Freund hat sich darum gekümmert, ein Ersatzdokument zu besorgen - was er ihr persönlich bringen wird und dann ab Ponte de Lima mit ihr zusammen laufen wird.
Ich finde das nicht nur rührend und auch romantisch und auch gut für Barbara - der Abschluss des Alten - und nun begleitet sie der Neue - es ist auch eines dieser Begebenheiten, bei der viele Pilger sagen: "The camino provides" - "Der Weg versorgt". Irgendwie bekommt jeder auf dem Weg, was er braucht. Zum Beispiel auch Bonbons, denn an einem hübschen Brunnen hat eine Pilgerkantine ein Glas mit Bonbons für Pilger hinterlassen.

Das Bonbonglas steht auf der Mauer, neben dem Becher für die, die kein Trinkgefäß haben

In einem Café essen Barbara und ich uns erst einmal was. Eine Dreiergruppe von Pilgerinnen kommt auch ins Café, zwei davon sprechen Schwedisch. Ich spreche sie auf Schwedisch an: "Entschuldigt, seid ihr Schweden?" - "Ja! Du auch?" - "Nein, ich bin Deutscher." - "Aber warum sprichst du Schwedisch?" Eine sehr typisch schwedische Frage. Die beiden Schwedinnen sind Elisabeth und Ingela. Die dritte im Bunde ist keine Schwedin, sondern eine Dänin namens Susann. Ob sie auch zu der öffentlichen Herberge nach Ponte de Lima wollen, frage ich. Die Dänin möchte das, aber die beiden Schweden nicht. Sie meinen, das sei das Privileg des Alters, sie würden das nicht wollen und sich lieber eine Pension suchen.
Barbara und ich laufen noch bis Ponte de Lima weiter - da trennen sich unsere Wege. Sie will in einem Hotel einchecken und auf ihren Freund warten.
Es ist wirklich unbeschreiblich, wie schön Ponte de Lima ist. Die alte Brücke über den Fluss Lima ist renoviert und fügt sich super ein. Der Lima ist strahlend blau und immer wieder durch Böschungen aufgelockert. Auf der Seite der Herberge ist eine schöne Kirche, auf der Seite, auf der ich ankomme, ist ein pittoresker Stadtkern mit vielen historischen Türmen, Gebäuden und den obligaten Häusern mit gekachelten Fassaden.

Neben der Kirche ist auch gleich die Herberge
In der Herberge komme ich gleichzeitig mit Tim und Leonie an. Tim ist ein wenig abweisend nach der Nummer mit dem Namen. Es hilft nicht, dass er ein wenig angeekelt davon ist, als ich eine Blase verarzte - ich bin im Bett neben ihm untergebracht. Mit einer anderen Pilgerin, Sarah, gehe ich in die Stadt einkaufen. Mein Einkaufsportugiesisch ist jetzt schon ganz in Ordnung und in dem putzigen Tante-Emma-Laden kann ich sattelfest mit der Händlerin sprechen. Auch die Nachfrage bei Einheimischen, ob denn morgen die Geschäfte offen haben, obwohl doch Nationalfeiertag ist, klappt super ("Ja, natürlich!" ist die Antwort).
Mit Eleonore, einer Belgierin, die sich in der Küche der Herberge Essen macht, spreche ich über die Sache mit den Handys. Sie ist über meine Einstellung ein wenig schockiert. Sie sagt, sie ist Mutter, ihre Tochter sollte sie erreichen können. Ich sage, dass das natürlich etwas anderes ist. Und vor allem auch ihre Sache. Aber ich für mich brauche ich die Funkstille. "Aber was, wenn zu Hause was passiert?" fragt sie. "Was soll ich denn hier auf der Pilgerfahrt dann ausrichten?" entgegne ich.
Ein ähnliches Thema ergibt sich mit Reiseführern. In der Küche werden eifrig zwei verschiedene Reiseführer verglichen und ich lasse mich zu der Aussage hinreißen, dass sie unnötig sind. Die Besitzer sind geradezu empört - da sind schließlich Wegvarianten drin und Telefonnummern von Herbergen. Ich entgegne, dass ich die Herbergen gerade nicht anrufen kann - bzw. will. Dass die öffentlichen Herbergen eh keine Vorbestellungen akzeptieren, sondern nach dem "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst"-Prinzip arbeiten. Und dass ich mich halt auf den Weg einlasse, so, wie er markiert ist - im Guten wie im Schlechten.
Mir fällt auf, dass der Grund der Empörung vielleicht ist, dass ich da auf einen interessanten Gedanken gestoßen bin - "unnötig" und "nutzlos" sind zwei verschiedene Konzepte, werden aber gerne verwechselt. Darüber möchte ich genauer nachdenken. Doch zunächst beobachten wir (die Amerikaner, ein paar Deutsche und ich) vom Balkon aus, wie der Mond über den Bergen hinter Ponte de Lima aufgeht. Es ist ein atemberaubend schöner Anblick.

Das Bild wird dem nur so halb gerecht

Nicht ganz so schön ist, dass zu diesem Zeitpunkt ein Musikfestival auf derselben Flussseite stattfindet und die Musik bis nachts um 2 Uhr in die Herberge hallt. Dies ist das erste Mal, dass ich die Ohropax anwende - und schlafe ein.
Mehr oder weniger.

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Dienstag, 27. Juni 2017

Tag 3 - In der Ruhe liegt die Kraft (Barcelinhos - Tamel)

Don't waste your time on jealousy. Sometimes you're ahead, sometimes you're behind. The race is long and, in the end, it's only with yourself.
Verschwende deine Zeit nicht mit Eifersucht. Manchmal bist du vorne, manchmal bist du hinten. Das Rennen ist lang und am Ende ist es nur mit dir selbst.
(aus: "Advice, like youth, probably just wasted on the young", Mary Smich, Chicago Tribune)
 Als die Runde organisch aufbricht, ist es schon Tag. Ich habe noch nicht wirklich geplant, wo ich in dieser Nacht unterkommen möchte. Theoretisch steht Ponte de Lima an, was wieder eine Tagesetappe von 36km bedeuten würde. Auch wenn die eher nüchterneren Schätzungen darüber, was ich die zwei Tage zuvor lief, sich auf 26 und 22km belaufen, nach den Märschen möchte ich ungern so eine lange Tour laufen, sondern zwischendurch unterkommen. Bloß wo?
Eine Möglichkeit hatte Elvira bereits mit uns diskutiert: sie hatte in Barcelinhos einen Ruhetag eingelegt und würde an diesem Tag nicht so weit laufen - vermutlich nur bis zur offiziellen Herberge in Tamel. Mal sehen. Zunächst laufe ich über die schöne Brücke nach Barcelos hinein. Diese Stadt steht ganz im Zeichen der Pilger. Nicht nur zieht eine regelrechte Karawane durch die Innenstadt, fast jedes Haus wirbt damit, dass man einen Pilgerstempel für seinen Pilgerpass bekommen kann - oder der Name hat irgendwas mit Pilgern zu tun. So frühstücke ich den obligatorischen Kakao mit Croissant im Café Santiago. Neben mir sitzen zwei andere deutsche Pilger, Sabine und Thomas. Diese wollen heute zu den Casas do Rio - das ist eine Hotelanlage zwischen Barcelos und Ponte de Lima, die ein Pilgerangebot haben und wo es Swimming-Pool, Frühstück, Doppelzimmer und Whirlpool gibt. Die Option klingt tatsächlich schmackhaft, aber ich laufe erst einmal weiter.
Barcelos ist eine sehr schöne Stadt - auf dem Marktplatz ist gerade ein großer Markt und viele Straßen sind bereits für das bald anstehende Johannisfest geschmückt.

Die restlichen Sehenswürdigkeiten sind es aber auch würdig, gesehen zu werden
Auf dem Weg aus Barcelos heraus treffe ich wieder auf Elvira und wir laufen zusammen. Sie läuft bereits zum zweiten Mal den Jakobsweg - das erste Mal lief sie den Frances, also den bekanntesten Jakobsweg von Frankreich aus. Sie tat das um sich zu zeigen, dass sie noch fit genug für so etwas ist und hat dadurch ein Stück Ruhe gewonnen gehabt.
Es geht bergauf, aber nicht wirklich steil - die Temperatur ist angenehm und wir unterhalten uns gut. Wir treffen auf zwei Niederländer und in einem schönen Mischmasch aus niederländisch, deutsch und englisch unterhalten wir uns über alles Mögliche. Der Weg ist auch nicht kompliziert dank der freundlichen Hilfestellungen von Anwohnern.

"Hier lang, Schatzi"
Nach einer erstaunlich kurzen Zeit erreichen wir die Herberge in Tamel. Es ist erst 11 Uhr und die Rezeption macht erst um 14 Uhr auf, also setzen wir uns erst einmal dort auf die Bänke und vertreiben uns die Zeit. Eigentlich habe ich noch genug Energie und will zu den Casas do Rio weiterziehen - glücklicherweise entschließe ich mich aber dazu, den Kellner im gegenüber gelegenen Restaurant da mal anrufen zu lassen - ausgebucht. Ein anderes Hotel dort ebenfalls. Das heißt: eventuell in der Casa Fernanda, einer anderen Herberge auf dem Weg, unterkommen, was aber ein Glücksspiel ist. Oder: einfach mal den Tag ruhig angehen lassen und in Tamel in der Herberge bleiben. Ich entschließe mich für letzteres.
Viel gibt es außer dem Restaurant nicht in Tamel. Die Herberge ist direkt neben der Kirche, die pünktlich alle halbe Stunde vom Band die Hymne "Ave Maria di Fatima" spielt, was einem erstaunlich schnell auf den Keks geht - was aber nachts irgendwann aufhört.

Nachts hört es auch auf, dass die Kapelle hübsch aussieht, da dann das Kreuz in einem ekelhaften Neongrün leuchtet
Der Hospitaleiro, Carlos, ist sehr nett, spricht sehr gut englisch und zeigt uns alles in der Herberge. Morgens sollen wir durch den Hinterausgang hinausgehen, da kann man raus - aber nicht wieder rein. Wir sollen uns also vergewissern, dass wir alles dabei haben. Bei dem Rundgang tritt Elvira aus Versehen auf die Schnalle meines Hüftgurts - sie ist darüber erschrockener als ich. Mit Alleskleber, den mir die Belegschaft vom Hostel netterweise gibt, und Leukotape versuche ich den Schaden zu reparieren - ob das wirklich effektiv ist, zeigt sich natürlich erst, wenn ich wieder gehe.
Eine Gruppe bayrischer Pilger trifft ein mit einem Pilger im Schlepptau, den ich auf 18 oder 19 schätze. Die Bayern und ich kommen ins Gespräch und sie wollen von mir wissen, wo ich herkomme. Ich lasse sie raten und sie raten genau falsch herum (sie sagen, ich würde aus der Nähe von Köln kommen und jetzt im Norden leben, statt anders herum). Ich frage den 18jährigen nach seinem Namen und er sagt: "Rate!" Nebenher höre ich jemanden sagen: "Das ist jetzt aber unfair, Tim.", was Tim aber nicht mitbekommt, weil er mich gerade herausfordernd angrinst. Ich lächle defensiv und entschuldigend: "Ach, ich weiß nicht, ich glaube, ich nenne dich einfach Tim." Tims Kinnlade fliegt herunter und er starrt mich mit einem herrlichen Gesichtsausdruck an. "Was... woher weißt du... wie?!?"
Er ist so perplex, dass er die Erklärung der anderen nicht hört und mich nur ungläubig nach einer Antwort anstarrt. Und selbst als ich sie ihm gebe, fragt er zweimal nach.
Tagsüber hatte ich in Barcelos mehrere Hähne gesehen - keine echten (obwohl man die immer mal wieder hört), aber bunte und bestimmt sehr symbolische:

Zum Beispiel so einen, direkt neben dem Stadteingang
In der Vitrine der Herberge liegen Halsketten von diesem Hahn mitsamt einer Erklärung in verschiedenen Sprachen. Es handelt sich um den Hahn von Barcelos - der aber insgesamt auch ein Symbol nicht nur von Portugal ist, auch Teile von Galizien sehen sich mit dem Hahn verbunden.
Der Hahn ist Element einer Legende. Nach der gab es einmal ein großes Fest, bei dem Silberbesteck gestohlen wurde. Ein Gast wurde des Diebstahls bezichtigt und vor Gericht gebracht, wo er immer wieder seine Unschuld beteuerte, bis er rief: "Wenn ich unschuldig bin, so soll dieser Hahn krähen!" und deutete auf ein Federvieh, das wegen eines Streitfalls im Gericht war. Der Hahn krähte und der Angeklagte wurde freigesprochen.
Ich kaufe eine Kette. Schaden kann es nicht, durch einen Hahn freigesprochen zu werden.
Als die anderen fast kollektiv zum Essen gehen, bleibe ich in der Herberge und lese in "Shambhala - the sacred path of the warrior", wo es um eine eher pragmatische als religiöse spirituelle Lebensweise geht. Das Buch erklärt eine Meditationspraxis, die ich ausprobiere.
Carlos hat Feierabend gemacht und zwei Stellvertreter in der Herberge gelassen. Die sind zwar nett, sprechen aber nur Portugiesisch und ein wenig Französisch. Mein Portugiesisch reicht glücklicherweise aus um zwei Amerikanern zu helfen, die ihr Gepäck per Boten in die Nähe der nächsten Herberge geschickt, aber keinen Beleg für die Abholung bekommen hatten, um herauszufinden, ob das ein Fehler war und die beiden zu bitten, Carlos anzurufen, damit er das mit dem klären kann. "Ne, Beleg braucht man nicht." sagt schließlich Carlos am Telefon den ungläubigen Amerikanern.
Diese Unterhaltung lief jedenfalls erfolgreicher als der Versuch die beiden Hospitaleiros zu fragen, was noch einmal "Angenehm, deine Bekanntschaft zu machen!" auf portugiesisch heißt, ein Gespräch, was sich 15 Minuten im Kreis dreht, bis ich endgültig aufgebe, als der letzte Versuch so endet: "Angenommen, wir treffen uns zum ersten Mal, und ich sage: 'Hallo, ich bin Jens!', was sagst du dann?" - "Ach so... ich sage 'Hallo, ich bin Domingo!'" - "Nein, ich meine, was sagst du danach?" - "Ach so... da sage ich 'Auf Wiedersehen!'"
In der Nacht habe ich einen Refluxanfall. Aufgrund meines Übergewichts schließt mein Magen nicht richtig zur Speiseröhre ab und ab und an wache ich nachts auf und ersticke an meiner eigenen Magensäure. Das passierte glücklicherweise nicht, aber ich muss stark husten. Ich gehe ins Badezimmer und spüle die Säure mit viel Wasser herunter und nehme gleich vier Gaviscon auf einmal um das zu verhindern. Ich möchte ungern die Herberge damit wecken.

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Montag, 26. Juni 2017

Tag 2 - Schritt für Schritt (Vilarinho - Barcelinhos)

Objects in the rear view mirror may appear closer than they are.
Objekte im Rückspiegel können näher erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind.
(Lied von Meat Loaf)
Der Wettermann im portugiesischen Fernsehen grinst in die Kamera als wäre er der Weihnachtsmann und die Wetterkarte bestätigt auch meine Vermutung warum: überall Sonnenschein und warme Temperaturen. Da, wo ich bin, soll es etwa 26°C werden, in Braga, einer nicht weit entfernt liegenden Stadt, 31°C, im Süden des Landes sogar bis zu 36°C.
Ich sitze in einem kleinen Café in Vilarinho, das mir Amadeu am Vorabend empfohlen hatte. Francois und ich sind aufgebrochen, als es zwar schon helllichter Tag war, aber es war sonst nur die Katze wach, die mich kurz zum Morgengruß angekuschelt hatte. Frau Vidal kam zwar gerade raus um die Zeitung reinzuholen und sie wünschte mir auch einen guten Weg, aber von wach konnte da keine Rede sein.
Ich trank meinen Kakao aus und aß den Rest von meinem Schokocroissant. Leider reihen sich die Portugiesen ein in die Länder, die keine echte Frühstückskultur haben. Zwar gibt es reichlich Cafés, die früh morgens auf haben, der durchschnittliche Portugiese begnügt sich aber mit einem Kaffee und höchstens noch einem Croissant.
Ich ziehe weiter, biege aber falsch ab, da ein Pfeil fehlt, der mir die richtige Richtung anzeigen könnte. Eine ältere Dame, die gerade ihren Garten wässert winkt mir aufgeregt zu - ihren Dialekt kann ich fast gar nicht verstehen, aber es wird auch so deutlich, was sie sagen möchte: du läufst falsch, du hättest da vorne rechts lang gemusst. Ich bedanke mich und finde tatsächlich wieder die gelben Pfeile.
Meine nächste Station ist die Ponte d´Ave, eine alte Brücke über den Fluss Ave. Es ist sehr beruhigend, dass die Straße, auf der ich nun laufe, entsprechend Rua Ponte d´Ave heißt, also Straße zur Ave-Brücke. Tatsächlich führen mich die Pfeile erst einmal vom Wald weg und zu einer wirklich hübschen Brücke über einen kleinen, verträumten Fluss neben einem schläfrigen Dörfchen.

Und ja, putzige Enten gab es da auch
Nach diesem ersten echten Highlight, wie als Ausgleich, geht es erst einmal wieder zurück zur N306, die ich ja am Vortag schon kennen und hassen gelernt hatte. Glücklicherweise nur für ein paar Meter, denn es findet sich wieder ein Umleitungsschild, das den Weg durch Felder hindurch leitet.
So sehr hätte der Wettermann jetzt auch nicht grinsen müssen, denn zum Laufen ist das Wetter schon fast zu gut. Und der Weg ist zwar angenehm verkehrsarm und es macht echt Spaß den Schwalben über den Feldern bei ihren Flugmanövern zuzusehen, aber leider bieten die niedrigen Mauern und noch nicht wirklich hochstehenden Pflanzen wenig Schatten. Ich entwickle schnell großen Durst und sehne mich nach einer Pause, als ich um die nächste Ecke herum plötzlich sehe, dass jemand in seinem Garten an Pilger gedacht hat.
So stelle ich es mir vor, eine Oase zu finden
Ein Wasserspender steht da zusammen mit einer Schüssel Zitronen, einem Messer und Gläsern, so dass man sich Limonade machen kann. Zusammen mit einem Schild, wo auf englisch und französisch steht, dass das alles umsonst ist und man kein Geld da lassen soll. Begeistert nehme ich das Angebot an und kann mit frischen Kräften weiterlaufen.
Bald treffe ich auf zwei andere Pilger - einen Deutschen und einem Österreicher. Wir kehren in Arcos zusammen in einem Café ein. Der Wirt spricht Deutsch, da er mal eine Zeit in Freiburg gelebt hat. Wir lassen unsere Pilgerpässe abstempeln und quatschen. Ein Ire gesellt sich dazu, der erzählt, dass er im Jahr zuvor seiner Verlobten auf dem Caminho den Heiratsantrag gemacht hatte. Auf einem Berg. Er meinte, es sei noch romantischer gewesen, als er das geplant hatte. Sie wollten eigentlich jetzt ihr einjähriges feiern, aber ihr ginge es nicht so gut, also fährt sie mit dem Auto hinterher.
Die Runde löst sich auf und laufe alleine weiter.
São Pedro de Rates ist ein kleiner, hübscher Ort, der ganz im Zeichen der Pilger steht. Hier kreuzen sich der Küstenweg des portugiesischen Jakobswegs, den ich hätte alternativ laufen können, und der zentrale Weg, den ich tatsächlich laufe. Eine alte römische Kirche mitsamt Museum lädt zum Erkunden ein. Hier ist auch eine Pilgerherberge, die recht ruhig gelegen ist und hübsch aussieht. In der Innenstadt lädt nicht nur ein Restaurant zum Verweilen ein, sogar Passanten und sogar die Dorfjugend winken einem zu, man solle sich setzen und ausruhen. Neben dem Dorfkern ist außerdem ein "Gesundheitszentrum" mit Schwimmbad, Sauna und Massagen. Was für mich nur eine Frage offen lässt: Warum bin ich Depp nicht dageblieben?

Und ja, der Rest des Dorfs ist genauso hübsch
Diese Frage stelle ich mir am Rest des Tages noch häufiger, insbesondere,  da die Sache mit den Distanzen langsam lächerlich wird. Reiseführer von anderen Pilgern, Aussagen von Einheimischen, Schilder und andere Informationsquellen sagen alle etwas anderes wenn es um die Entfernung von A nach B geht. Und keine davon mit wahrnehmbarer Konsequenz. Man findet mal ein Schild, wo die Entfernung nach Barcelos über den Pilgerweg als 14km angegeben wird. Schon ganz ok - nach gefühlt 2 Stunden und 5km Weg findet man ein weiteres Schild, das die Entfernung mit 14km angibt. Es ist recht frustrierend, aber so oder so habe ich nun keine Wahl.
Ein anderes Prinzip, was ich mir auferlegt habe, nenne ich da Honecker-Prinzip: "Vorwärts immer, rückwärts nimmer!" Dem folgen, nicht mit denselben Worten natürlich, sehr viele der Pilger - ein Schritt, den man nach vorne gemacht hat, macht man nicht wieder zurück und davon gibt es nur wenige Ausnahmen. Das heißt, ich musste nun wohl oder übel weiterlaufen.
Wenigstens hatte ich meinen philosophischen Denkanstoß des Tages bereits gehabt, ausgerechnet von einem Sprayer, der unter einer Brücke an den Pfeiler gesprüht hat: "Nada se perde, todo se transforma" - also: "Nichts vergeht, alles wandelt sich um". Das war jedenfalls ein interessanterer Gedanke als am anderen Pfeiler, wo auf portugiesisch stand: "Ich rauche Gras".
Der Weg läuft weiter durch Felder und kleine Kiefernhaine. Beides ist häufig mit kleinen, niedrigen Mauern vom Weg abgesetzt, auf denen man Steinhaufen findet, die von anderen Pilgern hinterlassen wurden, um den Weg zu markieren. Ich halte immer mal wieder an und setze selbst einen Stein. In der Antike wurden so Wege markiert - man konnte sie noch nicht befestigen, aber Wanderer setzen einen Stein auf einen Haufen um zu sagen, dass sie eine Abzweigung genommen hatten. War der Weg versperrt, dann gingen sie zurück und setzen den Stein um. So konnte man an den Steinhaufen immer erkennen, wo man lang musste. Und die Pilger führen diese Tradition fort.

Ja - hier sind ein paar Leute des Wegs gekommen
Der Weg führt auch immer wieder an den Kacklandstraßen vorbei, wo man das Gefühl hat, von den Rubbellosverlierern auf Kimme und Korn genommen zu werden.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kehre ich in einem Restaurant ein um etwas zu essen. Die Wirtin entschuldigt sich zwar, dass es nur aufgewärmt ist, da die Küche noch kalt ist, aber es ist ein unglaublich leckeres aufgewärmtes Hühnchen mit gutem Reis, Brot und Pommes. Dabei schaue ich eine portugiesische Seifenoper namens "Laços de Sangue" - "Blutsbande". Die Schlampe fädelt gerade eines ihrer bösen Intrigen. Man merkt, dass sie die Schlampe ist, da die Musik entsprechend wechselt. Die Musik zeigt auch, dass der Möchtegern, der sich an den echten Einflussreichen ranwirft, ein Möchtegern ist, das erkennt man aber auch so, da er in dem Restaurant das Minzblättchen aus dem Glas fischt, das ihm der Kellner reicht, wegschnippt und sagt, er hätte ein Wasser bestellt und keinen Salat.
Ich laufe weiter, es geht wieder an die Landstraßen und ich habe langsam keine Lust mehr. Ich laufe aber nicht mehr alleine, ich treffe auf eine Tschechin, die ich schon am Vortag gesehen hatte. Ich erzähle ihr, dass mir der Ire eine ganz bestimmte Herberge empfohlen hatte. Diese ist noch nicht in Barcelos, sondern in Barcelinhos, was aber von Barcelos nur durch eine Brücke getrennt ist. Diese soll sehr gut sein und auch ein Pilgermenü anbieten, wo alle an einem großen Tisch sitzen.
Als wir völlig erschöpft in Barcelinhos eintreffen, ist uns das aber erst einmal egal und wir wollen die erstbeste, also die offizielle Herberge nehmen - diese ist aber voll. Zum Glück, denn die Herberge, die uns empfohlen wurde, ist direkt um die Ecke und hat noch Plätze. Und tatsächlich werden wir dort gleich darauf hingewiesen, dass es gleich Essen gibt.

Sieht vielleicht nicht nach viel aus, nach der ganzen Lauferei ist das aber dann der Himmel
Auch diese Herberge ist keine offizielle Herberge, sprich, eine von der Stadt, sondern wird vom lokalen Folkloreverein gestellt. Entsprechend finden sich sehr viele Hinweise auf deren Aktionen während Stadtfesten und man findet Bilder, wie die Mitglieder auf einem Ponton im Fluss tanzen.
Die Herberge ist fest in deutscher Hand, die meisten kommen aus Deutschland außer der Tschechin, die ich mitgebracht hatte. Eine der Pilgerinnen, Elvira, kommt sogar auch aus Duisburg. Wir reden über dies und das. Es findet sich dort auch eine Kleinfamilie, Vater, Mutter und eine Tochter, die sich entschieden haben, die Pilgerfahrt statt einer Pauschalreise zu buchen. Diese scheinen aber ein wenig zu viel eingepackt zu haben. Das Knie der 14jährigen ist auf jeden Fall bereits rot geschwollen, sie haben sich aber einen engen Zeitplan gesteckt gehabt, den sie versuchen, durchzuboxen. Ich sehe sie nach dieser Nacht nicht wieder.
Ich gehe noch einmal nach draußen um eine Apotheke zu suchen und Fotos zu schießen.

Bot sich gerade so an... das auf der anderen Seite ist übrigens Barcelos
In der Apotheke komme ich mir reichlich komisch vor. Denn die Apothekerin reicht mir nicht nur mein Voltaren, sondern auch das Gästebuch. Sie gibt mir ihre Emailadresse und bittet mich ihr zu schreiben, wenn ich sicher in Santiago angekommen bin. Sie zeigt mir einen inspirierenden Spruch, den ein anderer Apothekenbesucher hinterlassen hat. Es ist aus "Cantares" von Antonio Machado, in der portugiesischen Übersetzung: "Caminhante, não há caminho, se faz caminho ao andar." - "Wanderer, es gibt keinen Weg, du schaffst den Weg durch das Gehen." Ich muss dabei an die Steinhaufen und die alte Wegtradition denken. Wir schaffen den Weg.
Warum bin ich jetzt nicht in Rates geblieben? Ich hätte mir meinen Weg anders schaffen können. Ich hätte mich kürzer fassen können - genug Zeit habe ich. Aber ich wollte mir nach der Nummer mit dem Barfußlaufen was beweisen - und habe mir damit mein Ziel sehr hoch gesteckt. Und als Resultat habe ich am Ende Füße, mit denen man nur noch im komischen Watschelgang durch die Gassen von Barcelinhos torkeln kann.
Ich nehme mir vor, am nächsten Tag es geruhsamer angehen zu lassen und mir Zeit zu lassen.

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Sonntag, 25. Juni 2017

Tag 1 - Aller Anfang ist schwer (Porto - Vilarinho)

It's a dangerous business, Frodo, going out your door. You step onto the road, and if you don't keep your feet, there's no knowing where you might be swept off to.

Es ist eine gefährliche Sache, Frodo, aus deiner Tür hinauszugehen. Du betrittst die Straße, und wenn du nicht auf deine Füße aufpasst, kann man nicht wissen, wohin sie dich tragen.
(J.R.R. Tolkien, "Der Herr der Ringe")
Am Vorabend hatte ich mir noch eine Stadtkarte von Porto besorgt und in dieser mit Bleistift den Weg innerhalb des Stadtgebiets von Porto eingezeichnet. Losgehen wollte ich von der Sé, der Kathedrale von Porto, wo ich auch meinen ersten Stempel für den Pilgerpass holen wollte. Dann zu Fuß und barfuß bis Vilarinho, was laut einem kleinen Pamphlet, was ich mir ausgedruckt hatte, eine Strecke von 37km sein sollte.
Alles, was ich bisher las, warnte mich vor, dass der Weg aus Porto heraus landschaftlich eher öde sein soll: hauptsächlich Stadtrandgebiete und Vororte ohne wirklichen Charme. Daher kürzen viele Pilger die Strecke ab und nehmen die Metro oder den Bus bis zum Stadtrand, wo die Landschaft dann wesentlich reizvoller sein soll. Ich hatte mir aber die Regel gesetzt, zu keinem Zeitpunkt abzukürzen, egal mit welchem Verkehrsmittel.
Da die Kathedrale erst um 9 Uhr öffnet, verbringe ich die Zeit mit Sightseeing und Frühstück. In einem kleinen Café in der Nähe treffe ich dann auch zwei deutsche Pilger, die es gerade hinter sich haben. "Wohin willst du heute laufen?" - "Nach Vilarinho." - "So weit als erste Etappe? Na, da hast du dir ja was vorgenommen! Und da willst du wirklich erst um 9 Uhr loslaufen?" - "Ja, ich will den Stempel der Sé!" - "Na dann... buen camino!"
Das erste Mal bekomme ich also den Pilgergruß - "Buen camino!" sagt man sich unter Pilgern um sich viel Erfolg und Glück auf dem Weg zu wünschen. Auf dem portugiesischen Weg hört man sehr häufig auch die portugiesische Variante, "Bom caminho!", und unter deutschen Pilgern manchmal auch die deutsche Übersetzung: "Guten Weg!"
Aber die Aussage meiner neuen Bekanntschaft verunsichern mich dann doch. Ist die Tagesetappe zu schwer? Habe ich mich da verkalkuliert? Soll ich auf den Stempel von der Sé verzichten und einfach jetzt los?
Nachdenklich schlürfe ich meinen Kakao auf und esse meinen Croissant auf um mir dann die Stadt noch ein wenig anzusehen.
Anders als am Vortag scheint die Sonne und lässt Porto in einem sehr guten Licht erscheinen. Die Stadt prahlt mit vielen interessanten Bauwerken. Die Sé selbst ist auf einer Anhöhe, von der man einen schönen Ausblick hat. Schwalben führen gerade halsbrecherische Manöver um die Zinnen einer anderen Kirche aus und die streunenden Katzen beginnen den Tag mit einem ausgiebigen Sonnenbad.
Der Anfang meines Camino ist nicht schwer zu finden - direkt an einer kleinen Mauer vor der Kathedrale finde ich zwei Pfeile - der eine in gelb mit der Beschriftung "Santiago" und der andere in blau mit der Beschriftung "Fátima". Von Santiago nach Fatima führt ein weiterer Pilgerweg, daher ist es nicht verwunderlich, dass dieser genau in die entgegengesetzte Richtung zeigt.

Ja, auf dem ersten Blick sieht es aus wie Graffiti. Man gewöhnt sich dran.
Ich setze mich auf den Vorplatz der Kathedrale an ein Monument, lese ein Buch, das ich mitgenommen habe und warte auf meinen Stempel. Es ist noch wenig los, aber ab und an verirren sich schon Leute auf den Platz um zu sehen, ob die Türen schon offen sind. Einige scheinen auch hier zu arbeiten.
Ich sehe auch schon ein paar Pilger - weniger an der Jakobsmuschel als vielmehr an dem vielen Gepäck zu erkennen. Es sind aber auch "normale" Touristen dabei, die die Morgensonne für schöne Fotos nutzen wollen.
Ein verständliches Unterfangen
Mir tut es tatsächlich etwas leid, nicht mehr Zeit in Porto zu verbringen, denn die Stadt lädt wirklich zum Erkunden ein, auch, wenn sie wirklich sehr hügelig ist. Aber ich habe ein Ziel - ich will pilgern und keine Städtereise machen.
Pünktlich um 9 Uhr öffnet die Sé dann endlich. Vor mir sind zwei Deutsche, die einen Pilgerpass kaufen. Ich will nur einen Stempel, den ich auch bekomme.
Wie jede Kathedrale hat auch diese ihre Sehenswürdigkeiten, so soll der Altar besonders sein und einer der Kreuzgänge architektonisch sehr interessant. Außerdem sah ich von außen weitere von diesen schönen blauen Kacheln. Ich begnügte mich damit, Fotos zu machen und mache mich dann endlich auf den Weg.
Die Altstadt von Porto ist UNESCO-Weltkulturerbe und man merkt sofort, warum. Viele kleine verwinkelte Gässchen, die sich wie ein Irrgarten entlang ziehen und die den Blick auf überraschend "versteckte" Sehenswürdigkeiten öffnen.
Immer wieder findet man einen gelben Pfeil, der einem den Weg zeigt. Nur an einer Stelle muss ich auf den Stadtplan sehen und da hätte ich es mir eigentlich auch sparen können, denn ich weiß, wo der Weg lang führt - an der Pension vorbei, wo ich in der letzten Nacht schlief. Ich bitte die Repetionsdamen mich noch einmal das Klo benutzen zu lassen und laufe dann weiter. Ab der Pension beginnt der angedrohte langweilige Teil - nicht nur architektonisch, sondern auch vom Weg selbst. Dieser führt immer geradeaus. Zumindest einen Vorteil hat das natürlich: die Dichte an Läden ist sehr hoch. Da ich nur eine Uhr in meiner Kamera habe, kaufe ich mir in einem Laden eine billige Armbanduhr, die überraschend schwer am Handgelenk ist - irgendwie schön symbolisch, die Zeit wirkt schwer oder so.
Ich mache ein paar Mal Pause und trinke was oder esse eine Kleinigkeit. Das Wetter ist gut, es ist warm aber nicht zu warm und es sind kaum Wolken am Himmel. Das wird aber auch fortschreitend ein Problem, denn der heiße Asphalt schmerzt doch unter den Sohlen, insbesondere, da die Portugiesen doch eine recht rauhe Mischung für den Asphalt verwenden.
Hinter einer kleinen Kapelle in Araújo will ich eigentlich eine Variante laufen, von der das portugiesische Pamphlet sprach, das ich ausgedruckt mitgenommen hatte. Diese Variante würde über eine alte römische Brücke führen. Ich lasse mir von einer Dame den Weg erklären. Als ich den aber laufen möchte, merke ich nicht nur dass mit gelben Xen mir deutlich gemacht wird, dass der offizielle Jakobsweg hier endet, der Weg wird auch extrem uneben und unangenehm, so dass ich wieder zurück gehe und weiter den gelben Pfeilen folge.
In Maia, einem Vorort, gebe ich dann um 15:15 endgültig auf. Der Untergrund ist zu uneben, der Asphalt zu rau und ich muss deutlich zu viel Strecke machen. Und dabei war ich bis hierhin nur urban unterwegs - wie das erst kommen soll, wenn die Wege aus Stein, Schotter und Geröll bestehen, war ja noch auf einem ganz anderen Blatt. Schweren Herzens ziehe ich also meine Sandalen an. Ich mag keine Flipflops - die sind mir zu unsicher. Ich habe dünne Sandalen, die hinten einen Riemen  haben, mit der die Schuhe sicher an den Füßen sitzen. Strümpfe habe ich keine mit, das sehe ich auch als unnötig an.

Der Plan war ja eigentlich eh gewesen, nur so zu laufen

Als ich ein wenig um meine Barfußerfahrung trauere, erscheint plötzlich, wie um mich zu trösten, eine Hundeschnauze im Zaun. Ein kleiner Welpe ist verwirrt, was er mit mir jetzt machen soll, spielen oder mich wegkläffend, also macht er kurz beides. Das heitert mich dann doch etwas auf und ich ziehe weiter.
Bislang hatte ich außer den gelben Pfeilen nichts davon gemerkt, dass ich auf dem Jakobsweg war. Es gab keine Hinweisschilder, ich sah keine anderen Pilger und außer der Pilgerherberge in Porto, an der ich kurz vorbeilief, sah ich auch keine Herbergen. Da war es umso ermutigender plötzlich Schilder zu sehen, die einen auf Übernachtungsmöglichkeiten in Vilarinho hinwiesen und auch eine Kilometerzahl angaben: 10km. Das ist doch einmal eine Aussage! In der Nähe dieser ersten Schilder war auch ein Café, in dem ich einen frischgepressten Orangensaft bekam, nach dem ich mich wieder frisch und gestärkt fühlte.

Kein schönes erstes Lebenszeichen der restlichen Pilgerkultur, aber man nimmt, was man kriegen kann
Eine Werbung hatte es mir besonders angetan: die der Familie Vidal, die einen Pool hat, die man mitbenutzen darf. Die Vorstellung, nach diesem Tag meine Füße in kühles Wasser stecken zu können, beschwingt mich dann doch. Und 10km, das sollte doch zu schaffen sein - auch wenn ich mich gerade einmal wieder auf Höhe des Flughafens befinde.
Leider führt der Weg nun ein gutes Stück entlang der N306 entlang, einer Landstraße. Und leider wird sehr bald deutlich, dass die Portugiesen nicht gerade vorsichtig oder rücksichtsvoll fahren, sondern eher so, als hätten sie den Führerschein als Trostpreis beim Rubbellos bekommen. Ich bange mehr als einmal um mein Leben, habe aber kaum Möglichkeiten, in Gräben auszuweichen. Oft verhindert auch eine Mauer, von der Fahrbahn herunterzugehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit treffe ich auf ein Schild, das davor warnt, dass dieser Abschnitt des Jakobswegs sehr gefährlich ist, weil es tiefe Gräben, hohe Mauern und ein hohes Verkehrsaufkommen gibt. "Ach nein, wirklich, das war mir jetzt fast nicht aufgefallen!" denke ich mir. Aber: das Schild bietet eine Umleitung an, die von der Landstraße weg und durch ein ruhiges Gebiet führt - allerdings 2,2km länger ist. "Ehe ich als 2,2km langer Blutfleck auf der Straße ende..." denke ich mir und laufe die Umleitung.
Unterwegs finde ich ein Restaurant, das Pilgermenüs anbietet - das machen sehr viele Restaurants entlang des Wegs. Für vergleichsweise wenig Geld bekommt man eine großzügige Portion und vor allem viele Kohlenhydrate - viel Reis, viele Kartoffeln, viele Nudeln. Ich bestelle mir ein Omelette, zu dem auch Brot satt und viele Fritten gereicht werden.
Eine halbe Stunde später etwa erreiche ich dann endlich Vilarinho und finde auch das Schild zur Familie Vidal. Das ist wörtlich zu verstehen, es ist eine Unterkunft bei einer privaten Familie, die in ihrem Garten Unterkünfte für Pilger gebaut haben. Der Hausherr, Amadeu, begrüßt mich herzlich und bringt mich in einem Raum unter, wo noch ein anderer Pilger schläft, der aber gerade nicht da ist. Ich bekomme ein Doppelbett, darf den Pool benutzen, kriege ein Handtuch gestellt und Bettwäsche und muss dafür nur 15€ bezahlen. Wenn ein einfaches Bett noch frei gewesen wäre, hätte ich nur 10€ zahlen müssen. Geschenkt. Amadeu erklärt mir alles auf portugiesisch, spanisch, französisch und ein wenig auf englisch. Das ein oder andere deutsche Wort hat er auch drauf, er lebte mal eine Zeit in Lübeck. Das mit den Sprachen wäre aber nicht nötig gewesen, denn ich verstehe die portugiesischen Erklärungen gut genug. Ich dusche, wasche meine Wäsche im dafür bereit stehenden Waschbecken und steige dann in den Pool.

Darauf hatte ich mich 10km... das heißt... 12,2km... gefreut
Das Wasser ist schweinekalt für jemanden, der den ganzen Tag herum lief. Ich bewege mich langsam, Millimeter für Millimeter in das Wasser rein, das natürlich angenehm kühl ist, sobald man drin ist, aber im Moment furchtbar eklig kalt ist.
Nach der Erfrischung hänge ich meine Sachen auf, wobei ich auch Frau Vidal kennenlerne, die mir dabei hilft, einen geeigneten Platz zum Trocknen zu finden. Dann lege mich ins Bett und lese, bis Francois kommt, der andere Pilger. Er ist pensionierter Mathelehrer aus Frankreich und wir unterhalten uns auf französisch über Politik, die Front National, die Europäische Union und Didaktik und Pädagogik an Unis. Wir reden auch über den Weg und stellen fest, dass der Reiseführer von Francois für die Strecke Porto bis Vilarinho eine komplett andere Zahl nennt als mein kleines Pamphlet - und dass die Zahl vermutlich eh vollkommen anders ist wegen des Umwegs. Auch die Schilder helfen nicht wirklich, denn wie genau die sind merkte man daran, dass die Casa do Laura, eine andere Herberge in Vilarinho, erst mit "in 500m" und dann, nur 200m weiter, mit "in 1km" ausgeschildert war. Die Kilometerangaben scheinen also komplett uneinheitlich und im wesentlichen nicht richtig zu sein. Ich weiß also überhaupt nicht, wie weit ich gelaufen bin - und stelle für mich fest, dass das eigentlich auch echt egal ist. Denn ich habe meine Tagesetappe erreicht. Wo es morgen hingeht? Wer weiß? Eine grobe Idee habe ich - aber ich habe nichts gebucht, nichts vorgeplant. Denn auch das ist etwas, was ich versuchen möchte auf diesem Weg - einmal im Moment zu sein und mich darauf einlassen, was mir der Weg bringt. Und damit schlafe ich ein.

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Anhang

Wer das elent bawen wel,  der heb sich auf und sei mein gesel  wol auf sant Jacobs straßen!  Zwei par schuoch der darf er wol  ein schüßel...