Sonntag, 25. Juni 2017

Tag 1 - Aller Anfang ist schwer (Porto - Vilarinho)

It's a dangerous business, Frodo, going out your door. You step onto the road, and if you don't keep your feet, there's no knowing where you might be swept off to.

Es ist eine gefährliche Sache, Frodo, aus deiner Tür hinauszugehen. Du betrittst die Straße, und wenn du nicht auf deine Füße aufpasst, kann man nicht wissen, wohin sie dich tragen.
(J.R.R. Tolkien, "Der Herr der Ringe")
Am Vorabend hatte ich mir noch eine Stadtkarte von Porto besorgt und in dieser mit Bleistift den Weg innerhalb des Stadtgebiets von Porto eingezeichnet. Losgehen wollte ich von der Sé, der Kathedrale von Porto, wo ich auch meinen ersten Stempel für den Pilgerpass holen wollte. Dann zu Fuß und barfuß bis Vilarinho, was laut einem kleinen Pamphlet, was ich mir ausgedruckt hatte, eine Strecke von 37km sein sollte.
Alles, was ich bisher las, warnte mich vor, dass der Weg aus Porto heraus landschaftlich eher öde sein soll: hauptsächlich Stadtrandgebiete und Vororte ohne wirklichen Charme. Daher kürzen viele Pilger die Strecke ab und nehmen die Metro oder den Bus bis zum Stadtrand, wo die Landschaft dann wesentlich reizvoller sein soll. Ich hatte mir aber die Regel gesetzt, zu keinem Zeitpunkt abzukürzen, egal mit welchem Verkehrsmittel.
Da die Kathedrale erst um 9 Uhr öffnet, verbringe ich die Zeit mit Sightseeing und Frühstück. In einem kleinen Café in der Nähe treffe ich dann auch zwei deutsche Pilger, die es gerade hinter sich haben. "Wohin willst du heute laufen?" - "Nach Vilarinho." - "So weit als erste Etappe? Na, da hast du dir ja was vorgenommen! Und da willst du wirklich erst um 9 Uhr loslaufen?" - "Ja, ich will den Stempel der Sé!" - "Na dann... buen camino!"
Das erste Mal bekomme ich also den Pilgergruß - "Buen camino!" sagt man sich unter Pilgern um sich viel Erfolg und Glück auf dem Weg zu wünschen. Auf dem portugiesischen Weg hört man sehr häufig auch die portugiesische Variante, "Bom caminho!", und unter deutschen Pilgern manchmal auch die deutsche Übersetzung: "Guten Weg!"
Aber die Aussage meiner neuen Bekanntschaft verunsichern mich dann doch. Ist die Tagesetappe zu schwer? Habe ich mich da verkalkuliert? Soll ich auf den Stempel von der Sé verzichten und einfach jetzt los?
Nachdenklich schlürfe ich meinen Kakao auf und esse meinen Croissant auf um mir dann die Stadt noch ein wenig anzusehen.
Anders als am Vortag scheint die Sonne und lässt Porto in einem sehr guten Licht erscheinen. Die Stadt prahlt mit vielen interessanten Bauwerken. Die Sé selbst ist auf einer Anhöhe, von der man einen schönen Ausblick hat. Schwalben führen gerade halsbrecherische Manöver um die Zinnen einer anderen Kirche aus und die streunenden Katzen beginnen den Tag mit einem ausgiebigen Sonnenbad.
Der Anfang meines Camino ist nicht schwer zu finden - direkt an einer kleinen Mauer vor der Kathedrale finde ich zwei Pfeile - der eine in gelb mit der Beschriftung "Santiago" und der andere in blau mit der Beschriftung "Fátima". Von Santiago nach Fatima führt ein weiterer Pilgerweg, daher ist es nicht verwunderlich, dass dieser genau in die entgegengesetzte Richtung zeigt.

Ja, auf dem ersten Blick sieht es aus wie Graffiti. Man gewöhnt sich dran.
Ich setze mich auf den Vorplatz der Kathedrale an ein Monument, lese ein Buch, das ich mitgenommen habe und warte auf meinen Stempel. Es ist noch wenig los, aber ab und an verirren sich schon Leute auf den Platz um zu sehen, ob die Türen schon offen sind. Einige scheinen auch hier zu arbeiten.
Ich sehe auch schon ein paar Pilger - weniger an der Jakobsmuschel als vielmehr an dem vielen Gepäck zu erkennen. Es sind aber auch "normale" Touristen dabei, die die Morgensonne für schöne Fotos nutzen wollen.
Ein verständliches Unterfangen
Mir tut es tatsächlich etwas leid, nicht mehr Zeit in Porto zu verbringen, denn die Stadt lädt wirklich zum Erkunden ein, auch, wenn sie wirklich sehr hügelig ist. Aber ich habe ein Ziel - ich will pilgern und keine Städtereise machen.
Pünktlich um 9 Uhr öffnet die Sé dann endlich. Vor mir sind zwei Deutsche, die einen Pilgerpass kaufen. Ich will nur einen Stempel, den ich auch bekomme.
Wie jede Kathedrale hat auch diese ihre Sehenswürdigkeiten, so soll der Altar besonders sein und einer der Kreuzgänge architektonisch sehr interessant. Außerdem sah ich von außen weitere von diesen schönen blauen Kacheln. Ich begnügte mich damit, Fotos zu machen und mache mich dann endlich auf den Weg.
Die Altstadt von Porto ist UNESCO-Weltkulturerbe und man merkt sofort, warum. Viele kleine verwinkelte Gässchen, die sich wie ein Irrgarten entlang ziehen und die den Blick auf überraschend "versteckte" Sehenswürdigkeiten öffnen.
Immer wieder findet man einen gelben Pfeil, der einem den Weg zeigt. Nur an einer Stelle muss ich auf den Stadtplan sehen und da hätte ich es mir eigentlich auch sparen können, denn ich weiß, wo der Weg lang führt - an der Pension vorbei, wo ich in der letzten Nacht schlief. Ich bitte die Repetionsdamen mich noch einmal das Klo benutzen zu lassen und laufe dann weiter. Ab der Pension beginnt der angedrohte langweilige Teil - nicht nur architektonisch, sondern auch vom Weg selbst. Dieser führt immer geradeaus. Zumindest einen Vorteil hat das natürlich: die Dichte an Läden ist sehr hoch. Da ich nur eine Uhr in meiner Kamera habe, kaufe ich mir in einem Laden eine billige Armbanduhr, die überraschend schwer am Handgelenk ist - irgendwie schön symbolisch, die Zeit wirkt schwer oder so.
Ich mache ein paar Mal Pause und trinke was oder esse eine Kleinigkeit. Das Wetter ist gut, es ist warm aber nicht zu warm und es sind kaum Wolken am Himmel. Das wird aber auch fortschreitend ein Problem, denn der heiße Asphalt schmerzt doch unter den Sohlen, insbesondere, da die Portugiesen doch eine recht rauhe Mischung für den Asphalt verwenden.
Hinter einer kleinen Kapelle in Araújo will ich eigentlich eine Variante laufen, von der das portugiesische Pamphlet sprach, das ich ausgedruckt mitgenommen hatte. Diese Variante würde über eine alte römische Brücke führen. Ich lasse mir von einer Dame den Weg erklären. Als ich den aber laufen möchte, merke ich nicht nur dass mit gelben Xen mir deutlich gemacht wird, dass der offizielle Jakobsweg hier endet, der Weg wird auch extrem uneben und unangenehm, so dass ich wieder zurück gehe und weiter den gelben Pfeilen folge.
In Maia, einem Vorort, gebe ich dann um 15:15 endgültig auf. Der Untergrund ist zu uneben, der Asphalt zu rau und ich muss deutlich zu viel Strecke machen. Und dabei war ich bis hierhin nur urban unterwegs - wie das erst kommen soll, wenn die Wege aus Stein, Schotter und Geröll bestehen, war ja noch auf einem ganz anderen Blatt. Schweren Herzens ziehe ich also meine Sandalen an. Ich mag keine Flipflops - die sind mir zu unsicher. Ich habe dünne Sandalen, die hinten einen Riemen  haben, mit der die Schuhe sicher an den Füßen sitzen. Strümpfe habe ich keine mit, das sehe ich auch als unnötig an.

Der Plan war ja eigentlich eh gewesen, nur so zu laufen

Als ich ein wenig um meine Barfußerfahrung trauere, erscheint plötzlich, wie um mich zu trösten, eine Hundeschnauze im Zaun. Ein kleiner Welpe ist verwirrt, was er mit mir jetzt machen soll, spielen oder mich wegkläffend, also macht er kurz beides. Das heitert mich dann doch etwas auf und ich ziehe weiter.
Bislang hatte ich außer den gelben Pfeilen nichts davon gemerkt, dass ich auf dem Jakobsweg war. Es gab keine Hinweisschilder, ich sah keine anderen Pilger und außer der Pilgerherberge in Porto, an der ich kurz vorbeilief, sah ich auch keine Herbergen. Da war es umso ermutigender plötzlich Schilder zu sehen, die einen auf Übernachtungsmöglichkeiten in Vilarinho hinwiesen und auch eine Kilometerzahl angaben: 10km. Das ist doch einmal eine Aussage! In der Nähe dieser ersten Schilder war auch ein Café, in dem ich einen frischgepressten Orangensaft bekam, nach dem ich mich wieder frisch und gestärkt fühlte.

Kein schönes erstes Lebenszeichen der restlichen Pilgerkultur, aber man nimmt, was man kriegen kann
Eine Werbung hatte es mir besonders angetan: die der Familie Vidal, die einen Pool hat, die man mitbenutzen darf. Die Vorstellung, nach diesem Tag meine Füße in kühles Wasser stecken zu können, beschwingt mich dann doch. Und 10km, das sollte doch zu schaffen sein - auch wenn ich mich gerade einmal wieder auf Höhe des Flughafens befinde.
Leider führt der Weg nun ein gutes Stück entlang der N306 entlang, einer Landstraße. Und leider wird sehr bald deutlich, dass die Portugiesen nicht gerade vorsichtig oder rücksichtsvoll fahren, sondern eher so, als hätten sie den Führerschein als Trostpreis beim Rubbellos bekommen. Ich bange mehr als einmal um mein Leben, habe aber kaum Möglichkeiten, in Gräben auszuweichen. Oft verhindert auch eine Mauer, von der Fahrbahn herunterzugehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit treffe ich auf ein Schild, das davor warnt, dass dieser Abschnitt des Jakobswegs sehr gefährlich ist, weil es tiefe Gräben, hohe Mauern und ein hohes Verkehrsaufkommen gibt. "Ach nein, wirklich, das war mir jetzt fast nicht aufgefallen!" denke ich mir. Aber: das Schild bietet eine Umleitung an, die von der Landstraße weg und durch ein ruhiges Gebiet führt - allerdings 2,2km länger ist. "Ehe ich als 2,2km langer Blutfleck auf der Straße ende..." denke ich mir und laufe die Umleitung.
Unterwegs finde ich ein Restaurant, das Pilgermenüs anbietet - das machen sehr viele Restaurants entlang des Wegs. Für vergleichsweise wenig Geld bekommt man eine großzügige Portion und vor allem viele Kohlenhydrate - viel Reis, viele Kartoffeln, viele Nudeln. Ich bestelle mir ein Omelette, zu dem auch Brot satt und viele Fritten gereicht werden.
Eine halbe Stunde später etwa erreiche ich dann endlich Vilarinho und finde auch das Schild zur Familie Vidal. Das ist wörtlich zu verstehen, es ist eine Unterkunft bei einer privaten Familie, die in ihrem Garten Unterkünfte für Pilger gebaut haben. Der Hausherr, Amadeu, begrüßt mich herzlich und bringt mich in einem Raum unter, wo noch ein anderer Pilger schläft, der aber gerade nicht da ist. Ich bekomme ein Doppelbett, darf den Pool benutzen, kriege ein Handtuch gestellt und Bettwäsche und muss dafür nur 15€ bezahlen. Wenn ein einfaches Bett noch frei gewesen wäre, hätte ich nur 10€ zahlen müssen. Geschenkt. Amadeu erklärt mir alles auf portugiesisch, spanisch, französisch und ein wenig auf englisch. Das ein oder andere deutsche Wort hat er auch drauf, er lebte mal eine Zeit in Lübeck. Das mit den Sprachen wäre aber nicht nötig gewesen, denn ich verstehe die portugiesischen Erklärungen gut genug. Ich dusche, wasche meine Wäsche im dafür bereit stehenden Waschbecken und steige dann in den Pool.

Darauf hatte ich mich 10km... das heißt... 12,2km... gefreut
Das Wasser ist schweinekalt für jemanden, der den ganzen Tag herum lief. Ich bewege mich langsam, Millimeter für Millimeter in das Wasser rein, das natürlich angenehm kühl ist, sobald man drin ist, aber im Moment furchtbar eklig kalt ist.
Nach der Erfrischung hänge ich meine Sachen auf, wobei ich auch Frau Vidal kennenlerne, die mir dabei hilft, einen geeigneten Platz zum Trocknen zu finden. Dann lege mich ins Bett und lese, bis Francois kommt, der andere Pilger. Er ist pensionierter Mathelehrer aus Frankreich und wir unterhalten uns auf französisch über Politik, die Front National, die Europäische Union und Didaktik und Pädagogik an Unis. Wir reden auch über den Weg und stellen fest, dass der Reiseführer von Francois für die Strecke Porto bis Vilarinho eine komplett andere Zahl nennt als mein kleines Pamphlet - und dass die Zahl vermutlich eh vollkommen anders ist wegen des Umwegs. Auch die Schilder helfen nicht wirklich, denn wie genau die sind merkte man daran, dass die Casa do Laura, eine andere Herberge in Vilarinho, erst mit "in 500m" und dann, nur 200m weiter, mit "in 1km" ausgeschildert war. Die Kilometerangaben scheinen also komplett uneinheitlich und im wesentlichen nicht richtig zu sein. Ich weiß also überhaupt nicht, wie weit ich gelaufen bin - und stelle für mich fest, dass das eigentlich auch echt egal ist. Denn ich habe meine Tagesetappe erreicht. Wo es morgen hingeht? Wer weiß? Eine grobe Idee habe ich - aber ich habe nichts gebucht, nichts vorgeplant. Denn auch das ist etwas, was ich versuchen möchte auf diesem Weg - einmal im Moment zu sein und mich darauf einlassen, was mir der Weg bringt. Und damit schlafe ich ein.

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Anhang

Wer das elent bawen wel,  der heb sich auf und sei mein gesel  wol auf sant Jacobs straßen!  Zwei par schuoch der darf er wol  ein schüßel...