Montag, 26. Juni 2017

Tag 2 - Schritt für Schritt (Vilarinho - Barcelinhos)

Objects in the rear view mirror may appear closer than they are.
Objekte im Rückspiegel können näher erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind.
(Lied von Meat Loaf)
Der Wettermann im portugiesischen Fernsehen grinst in die Kamera als wäre er der Weihnachtsmann und die Wetterkarte bestätigt auch meine Vermutung warum: überall Sonnenschein und warme Temperaturen. Da, wo ich bin, soll es etwa 26°C werden, in Braga, einer nicht weit entfernt liegenden Stadt, 31°C, im Süden des Landes sogar bis zu 36°C.
Ich sitze in einem kleinen Café in Vilarinho, das mir Amadeu am Vorabend empfohlen hatte. Francois und ich sind aufgebrochen, als es zwar schon helllichter Tag war, aber es war sonst nur die Katze wach, die mich kurz zum Morgengruß angekuschelt hatte. Frau Vidal kam zwar gerade raus um die Zeitung reinzuholen und sie wünschte mir auch einen guten Weg, aber von wach konnte da keine Rede sein.
Ich trank meinen Kakao aus und aß den Rest von meinem Schokocroissant. Leider reihen sich die Portugiesen ein in die Länder, die keine echte Frühstückskultur haben. Zwar gibt es reichlich Cafés, die früh morgens auf haben, der durchschnittliche Portugiese begnügt sich aber mit einem Kaffee und höchstens noch einem Croissant.
Ich ziehe weiter, biege aber falsch ab, da ein Pfeil fehlt, der mir die richtige Richtung anzeigen könnte. Eine ältere Dame, die gerade ihren Garten wässert winkt mir aufgeregt zu - ihren Dialekt kann ich fast gar nicht verstehen, aber es wird auch so deutlich, was sie sagen möchte: du läufst falsch, du hättest da vorne rechts lang gemusst. Ich bedanke mich und finde tatsächlich wieder die gelben Pfeile.
Meine nächste Station ist die Ponte d´Ave, eine alte Brücke über den Fluss Ave. Es ist sehr beruhigend, dass die Straße, auf der ich nun laufe, entsprechend Rua Ponte d´Ave heißt, also Straße zur Ave-Brücke. Tatsächlich führen mich die Pfeile erst einmal vom Wald weg und zu einer wirklich hübschen Brücke über einen kleinen, verträumten Fluss neben einem schläfrigen Dörfchen.

Und ja, putzige Enten gab es da auch
Nach diesem ersten echten Highlight, wie als Ausgleich, geht es erst einmal wieder zurück zur N306, die ich ja am Vortag schon kennen und hassen gelernt hatte. Glücklicherweise nur für ein paar Meter, denn es findet sich wieder ein Umleitungsschild, das den Weg durch Felder hindurch leitet.
So sehr hätte der Wettermann jetzt auch nicht grinsen müssen, denn zum Laufen ist das Wetter schon fast zu gut. Und der Weg ist zwar angenehm verkehrsarm und es macht echt Spaß den Schwalben über den Feldern bei ihren Flugmanövern zuzusehen, aber leider bieten die niedrigen Mauern und noch nicht wirklich hochstehenden Pflanzen wenig Schatten. Ich entwickle schnell großen Durst und sehne mich nach einer Pause, als ich um die nächste Ecke herum plötzlich sehe, dass jemand in seinem Garten an Pilger gedacht hat.
So stelle ich es mir vor, eine Oase zu finden
Ein Wasserspender steht da zusammen mit einer Schüssel Zitronen, einem Messer und Gläsern, so dass man sich Limonade machen kann. Zusammen mit einem Schild, wo auf englisch und französisch steht, dass das alles umsonst ist und man kein Geld da lassen soll. Begeistert nehme ich das Angebot an und kann mit frischen Kräften weiterlaufen.
Bald treffe ich auf zwei andere Pilger - einen Deutschen und einem Österreicher. Wir kehren in Arcos zusammen in einem Café ein. Der Wirt spricht Deutsch, da er mal eine Zeit in Freiburg gelebt hat. Wir lassen unsere Pilgerpässe abstempeln und quatschen. Ein Ire gesellt sich dazu, der erzählt, dass er im Jahr zuvor seiner Verlobten auf dem Caminho den Heiratsantrag gemacht hatte. Auf einem Berg. Er meinte, es sei noch romantischer gewesen, als er das geplant hatte. Sie wollten eigentlich jetzt ihr einjähriges feiern, aber ihr ginge es nicht so gut, also fährt sie mit dem Auto hinterher.
Die Runde löst sich auf und laufe alleine weiter.
São Pedro de Rates ist ein kleiner, hübscher Ort, der ganz im Zeichen der Pilger steht. Hier kreuzen sich der Küstenweg des portugiesischen Jakobswegs, den ich hätte alternativ laufen können, und der zentrale Weg, den ich tatsächlich laufe. Eine alte römische Kirche mitsamt Museum lädt zum Erkunden ein. Hier ist auch eine Pilgerherberge, die recht ruhig gelegen ist und hübsch aussieht. In der Innenstadt lädt nicht nur ein Restaurant zum Verweilen ein, sogar Passanten und sogar die Dorfjugend winken einem zu, man solle sich setzen und ausruhen. Neben dem Dorfkern ist außerdem ein "Gesundheitszentrum" mit Schwimmbad, Sauna und Massagen. Was für mich nur eine Frage offen lässt: Warum bin ich Depp nicht dageblieben?

Und ja, der Rest des Dorfs ist genauso hübsch
Diese Frage stelle ich mir am Rest des Tages noch häufiger, insbesondere,  da die Sache mit den Distanzen langsam lächerlich wird. Reiseführer von anderen Pilgern, Aussagen von Einheimischen, Schilder und andere Informationsquellen sagen alle etwas anderes wenn es um die Entfernung von A nach B geht. Und keine davon mit wahrnehmbarer Konsequenz. Man findet mal ein Schild, wo die Entfernung nach Barcelos über den Pilgerweg als 14km angegeben wird. Schon ganz ok - nach gefühlt 2 Stunden und 5km Weg findet man ein weiteres Schild, das die Entfernung mit 14km angibt. Es ist recht frustrierend, aber so oder so habe ich nun keine Wahl.
Ein anderes Prinzip, was ich mir auferlegt habe, nenne ich da Honecker-Prinzip: "Vorwärts immer, rückwärts nimmer!" Dem folgen, nicht mit denselben Worten natürlich, sehr viele der Pilger - ein Schritt, den man nach vorne gemacht hat, macht man nicht wieder zurück und davon gibt es nur wenige Ausnahmen. Das heißt, ich musste nun wohl oder übel weiterlaufen.
Wenigstens hatte ich meinen philosophischen Denkanstoß des Tages bereits gehabt, ausgerechnet von einem Sprayer, der unter einer Brücke an den Pfeiler gesprüht hat: "Nada se perde, todo se transforma" - also: "Nichts vergeht, alles wandelt sich um". Das war jedenfalls ein interessanterer Gedanke als am anderen Pfeiler, wo auf portugiesisch stand: "Ich rauche Gras".
Der Weg läuft weiter durch Felder und kleine Kiefernhaine. Beides ist häufig mit kleinen, niedrigen Mauern vom Weg abgesetzt, auf denen man Steinhaufen findet, die von anderen Pilgern hinterlassen wurden, um den Weg zu markieren. Ich halte immer mal wieder an und setze selbst einen Stein. In der Antike wurden so Wege markiert - man konnte sie noch nicht befestigen, aber Wanderer setzen einen Stein auf einen Haufen um zu sagen, dass sie eine Abzweigung genommen hatten. War der Weg versperrt, dann gingen sie zurück und setzen den Stein um. So konnte man an den Steinhaufen immer erkennen, wo man lang musste. Und die Pilger führen diese Tradition fort.

Ja - hier sind ein paar Leute des Wegs gekommen
Der Weg führt auch immer wieder an den Kacklandstraßen vorbei, wo man das Gefühl hat, von den Rubbellosverlierern auf Kimme und Korn genommen zu werden.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kehre ich in einem Restaurant ein um etwas zu essen. Die Wirtin entschuldigt sich zwar, dass es nur aufgewärmt ist, da die Küche noch kalt ist, aber es ist ein unglaublich leckeres aufgewärmtes Hühnchen mit gutem Reis, Brot und Pommes. Dabei schaue ich eine portugiesische Seifenoper namens "Laços de Sangue" - "Blutsbande". Die Schlampe fädelt gerade eines ihrer bösen Intrigen. Man merkt, dass sie die Schlampe ist, da die Musik entsprechend wechselt. Die Musik zeigt auch, dass der Möchtegern, der sich an den echten Einflussreichen ranwirft, ein Möchtegern ist, das erkennt man aber auch so, da er in dem Restaurant das Minzblättchen aus dem Glas fischt, das ihm der Kellner reicht, wegschnippt und sagt, er hätte ein Wasser bestellt und keinen Salat.
Ich laufe weiter, es geht wieder an die Landstraßen und ich habe langsam keine Lust mehr. Ich laufe aber nicht mehr alleine, ich treffe auf eine Tschechin, die ich schon am Vortag gesehen hatte. Ich erzähle ihr, dass mir der Ire eine ganz bestimmte Herberge empfohlen hatte. Diese ist noch nicht in Barcelos, sondern in Barcelinhos, was aber von Barcelos nur durch eine Brücke getrennt ist. Diese soll sehr gut sein und auch ein Pilgermenü anbieten, wo alle an einem großen Tisch sitzen.
Als wir völlig erschöpft in Barcelinhos eintreffen, ist uns das aber erst einmal egal und wir wollen die erstbeste, also die offizielle Herberge nehmen - diese ist aber voll. Zum Glück, denn die Herberge, die uns empfohlen wurde, ist direkt um die Ecke und hat noch Plätze. Und tatsächlich werden wir dort gleich darauf hingewiesen, dass es gleich Essen gibt.

Sieht vielleicht nicht nach viel aus, nach der ganzen Lauferei ist das aber dann der Himmel
Auch diese Herberge ist keine offizielle Herberge, sprich, eine von der Stadt, sondern wird vom lokalen Folkloreverein gestellt. Entsprechend finden sich sehr viele Hinweise auf deren Aktionen während Stadtfesten und man findet Bilder, wie die Mitglieder auf einem Ponton im Fluss tanzen.
Die Herberge ist fest in deutscher Hand, die meisten kommen aus Deutschland außer der Tschechin, die ich mitgebracht hatte. Eine der Pilgerinnen, Elvira, kommt sogar auch aus Duisburg. Wir reden über dies und das. Es findet sich dort auch eine Kleinfamilie, Vater, Mutter und eine Tochter, die sich entschieden haben, die Pilgerfahrt statt einer Pauschalreise zu buchen. Diese scheinen aber ein wenig zu viel eingepackt zu haben. Das Knie der 14jährigen ist auf jeden Fall bereits rot geschwollen, sie haben sich aber einen engen Zeitplan gesteckt gehabt, den sie versuchen, durchzuboxen. Ich sehe sie nach dieser Nacht nicht wieder.
Ich gehe noch einmal nach draußen um eine Apotheke zu suchen und Fotos zu schießen.

Bot sich gerade so an... das auf der anderen Seite ist übrigens Barcelos
In der Apotheke komme ich mir reichlich komisch vor. Denn die Apothekerin reicht mir nicht nur mein Voltaren, sondern auch das Gästebuch. Sie gibt mir ihre Emailadresse und bittet mich ihr zu schreiben, wenn ich sicher in Santiago angekommen bin. Sie zeigt mir einen inspirierenden Spruch, den ein anderer Apothekenbesucher hinterlassen hat. Es ist aus "Cantares" von Antonio Machado, in der portugiesischen Übersetzung: "Caminhante, não há caminho, se faz caminho ao andar." - "Wanderer, es gibt keinen Weg, du schaffst den Weg durch das Gehen." Ich muss dabei an die Steinhaufen und die alte Wegtradition denken. Wir schaffen den Weg.
Warum bin ich jetzt nicht in Rates geblieben? Ich hätte mir meinen Weg anders schaffen können. Ich hätte mich kürzer fassen können - genug Zeit habe ich. Aber ich wollte mir nach der Nummer mit dem Barfußlaufen was beweisen - und habe mir damit mein Ziel sehr hoch gesteckt. Und als Resultat habe ich am Ende Füße, mit denen man nur noch im komischen Watschelgang durch die Gassen von Barcelinhos torkeln kann.
Ich nehme mir vor, am nächsten Tag es geruhsamer angehen zu lassen und mir Zeit zu lassen.

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Wer das elent bawen wel,  der heb sich auf und sei mein gesel  wol auf sant Jacobs straßen!  Zwei par schuoch der darf er wol  ein schüßel...