Freitag, 30. Juni 2017

Tag 6 - Adeus, Portugal! (Rubiães - Valença)

Se o teu coração não quiser ceder, não sentir paixão, não quiser sofrer sem fazer planos do que virá depois, o meu coração pode amar pelos dois.
Wenn dein Herz nicht nachgeben will, keine Leidenschaft spüren will, nicht leiden möchte ohne Pläne zu schmieden für das, was danach kommt, kann mein Herz für uns beide lieben.
("Amar pelos dois",  Luisa & Salvador Sobral, Gewinner des ESC 2017)
Ich wache auf, als die ersten Vögel zwitschern. Fast schon automatisch trage ich meine Sachen aus dem Schlafsaal und ziehe das Bett ab. Erst im Essenssaal schaue ich auf die Uhr: es ist erst 3:20! Was mache ich jetzt? Zurück ins Bett? Das würde zu viel Unruhe verbreiten. Aber zum Loslaufen ist es zu dunkel - man sieht die Pfeile nicht.
Da ich aber auch nicht mehr müde bin, bleibe ich im Essenssaal, packe in aller Ruhe und lade dabei Kamera und Fotoapparat. Danach meditiere ich und schreibe mein Tagebuch weiter, insbesondere meine Gedanken zu "unnötig" und "nutzlos". Das Problem ist nicht, dass Pilger Reiseführer mitnehmen oder sehr viele Socken. Es ist nur dann ein Problem, wenn dies unbewusst passiert.
Bevor ich lospilgerte, habe ich mit Simon zusammen eine genaue Packliste zusammengestellt. Danach habe ich diese Liste erweitert um Dinge, die ich mitnehmen wollte. WOLLTE. Nicht musste. Wichtig ist nicht, dass wir Dinge mitnehmen, die wir eigentlich nicht brauchen. Wichtig ist, dass wir dies bewusst entscheiden und uns darüber im Klaren sind.
Ich hörte, dass gerade auf dem Camino Frances, also dem Hauptweg, der deutlich länger ist, sehr viele Menschen diese Erkenntnis zwischendrin haben und dann sich sehr vieler Dinge aus ihrem Gepäck entledigen - weil sie gesehen haben, wie wenig sie eigentlich wirklich benötigen. Und sie sehen, dass sie sehr viel Luxus unbewusst eingepackt haben und sich damit von deren Gewicht abhängig gemacht haben.
Was man aber wirklich braucht oder eben nicht - das ist sehr subjektiv, kann nur subjektiv sein. Vielleicht brauche ich sieben Paar Socken für mein Wohlgefühl? Vielleicht brauche ich einen Reiseführer um mich nicht verloren zu fühlen? Als ich meinen Mitpilgern zeigte, dass ich nur einen verkleinerten Ausdrucks eines Pamphlets habe, der bequem in meine Hemdtasche passt, in der nur die nächsten Stationen und die grobe Entfernung zu dieser verzeichnet sind, staunen sie mich mit offenem Mund an. Aber Alternativen, Herbergen, Informationen, all das findet man in den Reiseführern. Mein Totschlagargument ist: "Ich komme trotzdem an."
Damit möchte ich mich nicht über deren Weg stellen. Jeder hat seinen Weg. Und vielleicht brauchen sie den Reiseführer. Ich habe für mich entschieden, ihn nicht zu verwenden und fahre damit gut.
Jeder hat seinen Weg und das beinhaltet auch die Ausrüstung. Und damit auch die Reisevorbereitungen. Diese gehören mit zum Weg.
Und die eigene Zeit, die eigene Geschwindigkeit ebenfalls. Nicht zu hetzen, auf den Körper hören und den Körper das Tempo bestimmen lassen.
Kurz vor 5 Uhr geht die Straßenbeleuchtung an und ich beginne die letzte Etappe in Portugal durch das nächtliche Rubiães. Dies ist die letzte Etappe in Portugal. Die meisten, mit denen ich sprach, wollen am Abend in Tui unterkommen. Das ist die erste Stadt auf der spanischen Seite. Ich habe keine Eile, das Land zu verlassen und möchte die nächste Nacht noch in Portugal bleiben. Valença und Tui sind Nachbarstädte, die über eine Brücke miteinander verbunden sind. Die Grenze verläuft genau in der Mitte des Flusses. Von der Altstadt in Valença bis zur Altstadt von Tui sind es 10 Minuten Fußweg - in welchem der beiden Städte man also die Tagesetappe beendet ist nicht so wichtig.
Außerdem nehme ich mir vor, in ein Hotel zu gehen um einmal eine Nacht lang meine Ruhe und morgens ein ordentliches Frühstück zu haben.
Der Weg führt zunächst durch ein Feld und dann über eine alte, römische Brücke. Der Vollmond spiegelt sich im Wasser.
Die einzige Nachtaufnahme, die was taugt von diesem Morgen
Portugal will sich mit Stil verabschieden und führt den Weg weiter über die altrömische Straße XIX. Hochnebel beherrscht die Stimmung und in einem Waldstück sieht man atemberaubend schönes Wildwasser. Ich laufe wieder barfuß, die Steine bieten sich dafür wunderbar an.
Ich denke weiter über die Sache mit "unnötig" und "nützlich" nach. Vielleicht ist der Grund, warum die anderen so schockiert reagiert haben, als ich Reiseführer als "unnötig" bezeichnete, dass wir in vielen Dingen gerne so tun, als hätten wir keine Wahl. Es ist einfacher etwas hinzunehmen, Konventionen, Dogmen, soziale Normen, als Verantwortung zu übernehmen und bewusst sich für das eine oder andere zu entscheiden. Und so tun wir vor uns selbst, als hätten wir keine Wahl, ja, wir sehen gar nicht mehr, dass wir eine Wahl haben und sagen dann, dass wir mit etwas leben müssen - auch wenn das gar nicht zutrifft.
Und natürlich gilt das nicht nur für die anderen. Natürlich habe ich auch Dinge dabei, die ich für notwendig hielt - und mittlerweile als Luxus angesehen habe. Und natürlich habe ich auch Dinge dabei, auf die ich hätte verzichten zu können - ohne, dass ich das schon gemerkt habe.
Lustig würde ich mich deswegen nicht über die sieben Paar Socken von Nicholas machen. Vielleicht braucht er sie wirklich. Vielleicht braucht er sie nicht, aber er braucht die Illusion, sie zu brauchen. oder die Erkenntnis, sie doch nicht zu brauchen. So oder so ist es für mich unsichtbar, ob dies für ihn einen Nutzen hat oder nicht - so, wie es für andere nicht offensichtlich ist, was für mich Nutzen hat oder nicht. Und mir selbst ist es auch oft nicht klar.
Ich treffe wieder auf Joost und Nanette und wir unterhalten uns über Joosts Firma - er baut Systeme zur Identitätsprüfung zum Beispiel für Flughäfen. Um mit den beiden mithalten zu können, ziehe ich die Schuhe wieder an. Wir sind auf der Suche nach einem Café - das erste ist zwar geschlossen, dafür bietet die nahegelegene Kirche im Nebel mit dem dahinterliegenden Mobilfunkmast ein faszinierendes Bild.

Leider hängen in den interessantesten Winkeln immer Telefonkabel...
Bei einem Steinhaufen halte ich etwas länger an, so dass die beiden voraus laufen. Ich ziehe die Sandalen wieder aus und laufe bis zum nächsten Café, wo ich nicht nur sie, sondern auch die Schwedinnen und Eleonore, die Belgierin, wiedertreffe. Elisabeth hatte sich mir gegenüber am Vortag als Diakonin der schwedischen Kirche geoutet und wir hatten viel über mein Verhältnis zu Religion gesprochen und dass ich Atheist bin. Wir schneiden das Thema über mein Käsebrötchen noch einmal kurz an.
Ich lasse die Sandalen sehr lange aus und ziehe sie erst wieder an, als nach einer Weile des Laufens meine Sohlen sich wieder müde anfühlen. Ich sichere mir zu, es immer wieder zu versuchen.
Meine nächste Café-Pause ist in Cerdal, einem Dorf kurz vor Valença - ich sage Café, aber es ist nur eine Bude auf einer Wiese. Ich treffe da zwei Deutsche wieder, die ich schon in Rubiães getroffen hatte. Wie einige erzählen sie mir, dass sie schon einmal den Frances gelaufen sind und der besonderer war - mehr "Originale" und irgendwie tiefer. Ich entgegne, dass es vielleicht daran liegt, dass es für sie der zweite Camino ist. Sie geben mir Recht: "Einige Dinge sollte man nur einmal machen."
Tatsächlich ist mein Gedanke aber, warum sie nicht jetzt im Moment sind. Also: warum nicht jetzt den Augenblick genießen, statt ihn sich madig zu machen mit dem Vergleich mit früheren Erlebnissen? Und damit es auch noch anderen madig machen?
Kurze Zeit später komme ich an einer Herberge mit Café vorbei, wo die Japanerinnen sitzen. Da ich mich mit den beiden nicht unterhalten hatte, hole ich das nach. Der Hospitaleiro ist ein junger Mann aus Paderborn, der hier "hängengeblieben" ist. Er gibt mir nicht nur einen Stempel, er malt den sogar aus.
Leonie und Tim kommen ebenfalls - Tim versichert sich mehrfach, dass seine Aussagen auch nicht falsch angekommen sind. Wir machen ein paar Bilder und ziehen dann unabhängig voneinander weiter.
Dem Wegweiser nach habe ich schon über die Hälfte des Weges nach Santiago hinter mir - aber das heißt leider nichts
Am Stadtrand von Valença gönne ich mir in einem Restaurant eine lokale Spezialität, eine Francesinha. Das ist ein Toast mit Steak, Würsten und Schinken, die mit reichlich Käse überbacken wurden. Dazu gibt es ein Kilogramm Pommes. "Francesinha" bedeutet eigentlich "kleine Französin", aber als Elvira in Tamel eine bestellt hatte, sprachen wir ob der großen Portion eher von "einer französischen Kleinfamilie". Das trifft in diesem Restaurant auch zu und ich kriege nicht alles runter. Auf dem Weg zur Toilette bleibe ich mit der Uhr, die ich mir am ersten Tag in Porto gekauft hatte, hängen, das Armband reißt und die Uhr springt in mehrere Bestandteile auf dem Boden.
Gut. Sie war billig und lief ständig nach - ein großer Verlust war es nicht, da meine Kamera mir auch die Zeit anzeigte und deutlich zuverlässiger. Das machte die Uhr zu Luxus. Und etwas, was ich nicht brauche.
Ich laufe weiter und treffe auf zwei deutsche Pilger. Die eine fragt mich, ob das mein ganzes Gepäck sei. Ich bejahe das. "Dann hast du schlau gepackt - ich habe nicht schlau gepackt, ich muss es mir transportieren lassen." Ich danke innerlich noch einmal Simon für seine Hilfe.
Eine Sache, die ich sicherlich nicht vermissen werde - zumal das in Galizien leider auch häufig vorkommt - sind die Hunde. Sehr viele Grundstücke werden von Hunden bewacht, die sofort loskläffen, wenn man sich auch nur einen Nanometer zu nahe an den Zaun traut. Etliche Hunde springen auch auf die Mauer um von da besser herunterkläffen zu können - gerne auch erst in dem Moment, wo man daran vorbeiläuft, damit man auch ja einen ordentlichen Schreck kriegt.
Wir waren einigermaßen froh, dass dem Hund nicht aufging, dass er da einfach drüberspringen kann
Aber schließlich erreichte ich die Innenstadt von Valença. Eine Infotafel besagt, dass die Herberge etwas ab vom Weg und vor allem nicht in der historischen Altstadt liegt. Ich fühle mich durch beides in meiner Entscheidung, ein Hotel zu suchen, bestärkt. Ich laufe durch die Altstadt, bis ich auf ein Gebäude treffe, an dem "Pousada de Valença" steht und nach etwas gastronomischem aussieht. Ich gehe hinein und frage, ob es hier ein Hotel gibt. "Wir SIND ein Hotel" kommt die Antwort vom Rezeptionisten. Sie haben auch noch ein Zimmer, allerdings für 80€. Ich nehme es und gehe hinein. Und es ist zum ersten Mal seit einer Woche still. Kein Straßenlärm, keine Hähne, keine bellenden Hunde, keine Vögel, kein Klacken von Wanderstöcken, keine sich unterhaltenden Pilger, kein "Buen camino" oder "Bom caminho" oder irgendwas. Einfach nur Stille. Und ich finde es etwas unheimlich. Aber nur bis ich entdecke, dass mein Bad eine Badewanne hat. Ich springe sofort rein und sorge dafür, dass einmal der gesamte Dreck von mir runterkommt. Das war nötig, denn ich war so dreckig, dass ich die braunen Flecken danach nicht richtig mit Wasser weggespült bekomme. Ich lege mich auf das Bett und wache erst dreieinhalb Stunden später auf - das frühe Aufstehen forderte seinen Tribut.
Valença ist nicht ganz der Abschied, den ich mir von Portugal gewünscht habe. Die Stadt ist zwar eindeutig hübsch und architektonisch erkennt man hier viel wieder, insbesondere die verkachelten Häuser. Außerdem ist die Altstadt in einer alten Wehranlage aufgebaut, die gut erhalten und gepflegt ist. Aber: es reihen sich ein Ramschladen nach dem anderen. Weil man gemütlich von Spanien aus hierhin schlendern kann, sind sehr viele spanische Tagestouristen in den Straßen, die in dem deutlich ärmeren und damit billigeren Portugal Textilien einkaufen wollen. Und entsprechend hat fast jeder Laden Strandtücher, Badelaken, Bettwäsche und ähnliches im Angebot. Wir Pilger sind Zielgruppe Nummer 2, wo sich aber wieder die Frage stellt, was ich denn hier kaufen soll um es dann bis Fisterra mitzunehmen.
Einer der wenigen Winkel ohne große Badetücher
Ich spaziere etwas herum und esse mir ein Eis - der Eisverkäufer begrüßt mich spontan auf Spanisch. Danach überlege ich kurz, ob ich mir die Wehranlagen näher ansehen soll, die wirklich interessant aussehen und frei begehbar sind.
Und hier ist auch kein Mensch...
Aber ich entschließe mich, lieber für den nächsten Tag auszuruhen.
Valença ist beeindruckend schön und es ist interessant, wie es die Portugiesen schaffen, mit mittelalterlichen Straßen durch mittelalterliche Stadttore modernen Verkehr zu leiten. Aber ich brauche gerade die Ruhe, auch wenn ich jetzt schon den Kontakt zu den anderen Pilgern vermisse.
Zwei Herbergen sind in unmittelbarer Nähe des Hotels, die wohl günstiger gewesen wären. Verdammt. Jetzt wäre ein Reiseführer nützlich gewesen...
Vor dem Schlafen schaue ich den Film "Outlander" auf einem Fernsehkanal, der die Filme im Original mit portugiesischen Untertiteln zeigt. Es geht um einen Außerirdischen, der bei den Wikingern landet und mit ihnen zusammen ein Monster jagt. Der Film ist leicht verdaulich, aber irgendwie relevant, nur dass ich bei der Müdigkeit nicht bemerke, warum. Mir fällt nur, dass das Gebrüll des Monsters wie das eines Minotaurus klingt.

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Wer das elent bawen wel,  der heb sich auf und sei mein gesel  wol auf sant Jacobs straßen!  Zwei par schuoch der darf er wol  ein schüßel...