Allein zu sein! Drei Worte, leicht zu sagen, und doch so schwer, so endlos schwer zu tragen.
(Adelbert von Chamisso)Ich wache mit dem ersten Hahnenschrei auf. Draußen ist es noch dunkel, aber ich fühle mich erfrischt genug. Leise steige ich vom Hochbett herunter und trage meine Sachen in den Flur um sie dort einpacken zu können, ohne die anderen zu wecken. Joost und Nanette, die beiden Niederländer, sind schon wach, sowie eine Deutsche - wir alle packen unsere Sachen, wünschen uns einen guten Weg und gehen unabhängig voneinander los. Direkt vor dem Hinterausgang steht der Nachbar und verkauft Obst aus einem Pappkarton heraus. Ich kaufe eine Banane und laufe los.
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| Ich sagte doch, dass die Kirche durch das grüne Kreuz etwas hässlich ist... |
An einem Bahnübergang gibt es eine Warnung für Pilger und andere Wanderer, nicht in großen Gruppen über die Schrankenanlage zu gehen, da das von den Signalen ablenken kann.
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| ACHTUNG - Halte an - schaue - horche |
Irgendwo an einem Feldweg höre ich, wie es in meinem Rucksack vibriert. Mein Handy, das seit Porto aus war, hatte sich eingeschaltet - wohl, weil irgendwas auf den Ein/Aus-Schalter gedrückt hat. Entnervt fische ich es aus dem Rucksack um es wieder auszuschalten. Das gelingt mir, aber ich sehe noch, wie mir Felix, ein guter Freund, eine Nachricht über Facebook geschickt hatte um mir viel Spaß und gute Gedanken auf dem Weg zu wünschen. Ich ärgere mich maßlos. Nicht, weil er mir die Nachricht geschickt hat oder über den Inhalt - darüber freue ich mich. Aber darum geht es - sie bringt mich sofort nach Hause und in Gedanken bin ich nicht mehr hier, auf dem Weg, sondern bei meinen Freunden, den Menschen, die ich lieb habe. Aber da will ich jetzt gerade gar nicht sein. Es war eine bewusste Entscheidung, alleine zu pilgern.
Die letzten sieben Jahre wurden durch meine Freunde geprägt - und diejenigen, die ich dafür hielt. Letztere nutzten mich aus, verarschten mich, ließen mich im Regen stehen und kannten nur ihre eigenen Gefühle im Umgang mit mir. Aber gerade auch in letzter Zeit hatte ich immer wieder Hilfe erfahren, es haben sich immer wieder Menschen hervorgetan und bewiesen, dass sie wahre Freunde sind. Das einzige, was für mich blieb, war zu sehen, was ich eigentlich für ein Mensch bin und wie ich fortgehen möchte. Dafür brauchte ich aber die Ruhe und den Abstand, dafür durfte ich nicht in Gedanken zu Hause sein - darum hatte ich mich zur Pilgerfahrt aufgemacht. Aber nutzt es einem, für eine Weile ein Eremit zu sein, wenn einem die Bekannten aus der Heimat jederzeit Bilder von dem schicken können, was sie zu Mittag hatten? Darum war für mich von Anfang an klar, dass ich das Handy und damit Facebook, Whatsapp und Co ausgeschaltet lassen musste.
Freilich sehen das die meisten Pilger anders. Die deutsche Kleinfamilie, die ich in Barcelinhos traf, sagte, sie wäre aufgeschmissen, AUFGESCHMISSEN ohne die App, die ihnen sagt, wo der Weg lang geht und wo man Herbergen findet. Auch das Mädchen hing nach dem Abendessen nur noch am Handy um mit dem Freund und Freundinnen zu sprechen. Selbst Elvira empfängt Nachrichten von ihren Freundinnen, mit denen sie in Deutschland immer verreist und Touren macht.
Die Amerikaner haben sogar ihren Laptop dabei und richten über das Handy jeden Abend einen mobilen Hotspot ein. Eines der Gründe, warum sie die Transportdienste in Anspruch nehmen, denn sie wollen das nicht alles schleppen.
Ich will nicht sagen, dass das gut oder schlecht ist. Es ist anders. Jeder geht seinen Weg, jeder trifft seine Entscheidungen. Für mich ist nur sehr schnell klar, dass für meinen Plan, eher im Moment zu sein, es die richtige Entscheidung war, elektronische Abstinenz zu üben.
Ich erreiche die Casa Fernanda, eine weitere private Herberge mit einem wunderschönen Garten, der gerade von der Herrin des Hauses gepflegt wird. Ich lasse mir einen Stempel geben. Dies ist Elviras Tagesziel - ich gehe daher davon aus, dass ich sie nicht mehr wiedersehen werde.
Ich laufe weiter über Feldwege. Der Hochnebel, der am Morgen noch um die Berge zog, verzieht sich langsam. Der Weg ist recht einfach zu laufen und gut markiert - nur an einer Stelle brauchte ich etwas Hilfestellung.
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| Ohne die Stöckchen hätte ich den gelben Pfeil wirklich nicht gesehen |
Dafür geht es recht flott voran. Ab Facha finden sich nun regelmäßig Schilder, die einem nicht nur die Entfernung bis Ponte de Lima angeben, sondern auch, wie lange man dafür noch laufen muss. Erstaunt darüber, dass die im Vorfeld wissen, wie schnell ich laufe, laufe ich weiter. Der Weg führt zunächst durch einen Wald. Schon fast stereotypisch hübsch werde ich von balzenden Schmetterlingen umflattert und viele Blumen blühen um die Wette.
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| Das einzige gute Bild, das ich von den Tieren aufnehmen konnte |
Als der Weg durch eine Siedlung führt, sehe ich ein Kachelbild des Heiligen Rochus. Davor haben viele Pilger Steinhaufen gelegt. Ich denke wieder über den Sinnspruch nach, "Wir schaffen den Weg durch das Gehen", krame einen Stein aus meiner Tasche, den ich aus Deutschland mitgebracht hatte, und lege ihn zu den anderen.
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| Wer herauskriegt, welcher Stein von mir ist, kriegt'ne Portion Pommes |
Ich finde das nicht nur rührend und auch romantisch und auch gut für Barbara - der Abschluss des Alten - und nun begleitet sie der Neue - es ist auch eines dieser Begebenheiten, bei der viele Pilger sagen: "The camino provides" - "Der Weg versorgt". Irgendwie bekommt jeder auf dem Weg, was er braucht. Zum Beispiel auch Bonbons, denn an einem hübschen Brunnen hat eine Pilgerkantine ein Glas mit Bonbons für Pilger hinterlassen.
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| Das Bonbonglas steht auf der Mauer, neben dem Becher für die, die kein Trinkgefäß haben |
In einem Café essen Barbara und ich uns erst einmal was. Eine Dreiergruppe von Pilgerinnen kommt auch ins Café, zwei davon sprechen Schwedisch. Ich spreche sie auf Schwedisch an: "Entschuldigt, seid ihr Schweden?" - "Ja! Du auch?" - "Nein, ich bin Deutscher." - "Aber warum sprichst du Schwedisch?" Eine sehr typisch schwedische Frage. Die beiden Schwedinnen sind Elisabeth und Ingela. Die dritte im Bunde ist keine Schwedin, sondern eine Dänin namens Susann. Ob sie auch zu der öffentlichen Herberge nach Ponte de Lima wollen, frage ich. Die Dänin möchte das, aber die beiden Schweden nicht. Sie meinen, das sei das Privileg des Alters, sie würden das nicht wollen und sich lieber eine Pension suchen.
Barbara und ich laufen noch bis Ponte de Lima weiter - da trennen sich unsere Wege. Sie will in einem Hotel einchecken und auf ihren Freund warten.
Es ist wirklich unbeschreiblich, wie schön Ponte de Lima ist. Die alte Brücke über den Fluss Lima ist renoviert und fügt sich super ein. Der Lima ist strahlend blau und immer wieder durch Böschungen aufgelockert. Auf der Seite der Herberge ist eine schöne Kirche, auf der Seite, auf der ich ankomme, ist ein pittoresker Stadtkern mit vielen historischen Türmen, Gebäuden und den obligaten Häusern mit gekachelten Fassaden.
In der Herberge komme ich gleichzeitig mit Tim und Leonie an. Tim ist ein wenig abweisend nach der Nummer mit dem Namen. Es hilft nicht, dass er ein wenig angeekelt davon ist, als ich eine Blase verarzte - ich bin im Bett neben ihm untergebracht. Mit einer anderen Pilgerin, Sarah, gehe ich in die Stadt einkaufen. Mein Einkaufsportugiesisch ist jetzt schon ganz in Ordnung und in dem putzigen Tante-Emma-Laden kann ich sattelfest mit der Händlerin sprechen. Auch die Nachfrage bei Einheimischen, ob denn morgen die Geschäfte offen haben, obwohl doch Nationalfeiertag ist, klappt super ("Ja, natürlich!" ist die Antwort).
Mit Eleonore, einer Belgierin, die sich in der Küche der Herberge Essen macht, spreche ich über die Sache mit den Handys. Sie ist über meine Einstellung ein wenig schockiert. Sie sagt, sie ist Mutter, ihre Tochter sollte sie erreichen können. Ich sage, dass das natürlich etwas anderes ist. Und vor allem auch ihre Sache. Aber ich für mich brauche ich die Funkstille. "Aber was, wenn zu Hause was passiert?" fragt sie. "Was soll ich denn hier auf der Pilgerfahrt dann ausrichten?" entgegne ich.
Ein ähnliches Thema ergibt sich mit Reiseführern. In der Küche werden eifrig zwei verschiedene Reiseführer verglichen und ich lasse mich zu der Aussage hinreißen, dass sie unnötig sind. Die Besitzer sind geradezu empört - da sind schließlich Wegvarianten drin und Telefonnummern von Herbergen. Ich entgegne, dass ich die Herbergen gerade nicht anrufen kann - bzw. will. Dass die öffentlichen Herbergen eh keine Vorbestellungen akzeptieren, sondern nach dem "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst"-Prinzip arbeiten. Und dass ich mich halt auf den Weg einlasse, so, wie er markiert ist - im Guten wie im Schlechten.
Mir fällt auf, dass der Grund der Empörung vielleicht ist, dass ich da auf einen interessanten Gedanken gestoßen bin - "unnötig" und "nutzlos" sind zwei verschiedene Konzepte, werden aber gerne verwechselt. Darüber möchte ich genauer nachdenken. Doch zunächst beobachten wir (die Amerikaner, ein paar Deutsche und ich) vom Balkon aus, wie der Mond über den Bergen hinter Ponte de Lima aufgeht. Es ist ein atemberaubend schöner Anblick.
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| Das Bild wird dem nur so halb gerecht |
Nicht ganz so schön ist, dass zu diesem Zeitpunkt ein Musikfestival auf derselben Flussseite stattfindet und die Musik bis nachts um 2 Uhr in die Herberge hallt. Dies ist das erste Mal, dass ich die Ohropax anwende - und schlafe ein.
Mehr oder weniger.
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