Did you ever think as a hearse goes by, that you may be the next to die?And your eyes fall out, and your teeth decay, And that is the end of a perfect day.
Hast du je gedacht, während ein Leichenwagen vorbeifährt, dass du der nächste sein könntest, der stirbt? Und deine Augen fallen aus und deine Zähne verrotten und das ist das Ende eines perfekten Tages.
(The Hearse Song, unbekannter Ursprung)Die italienischen Fahrradpilger im Stockwerk unter uns machen nach dem Aufwachen einen solchen Lärm, dass auch ich wach werde. Christine, eine Schweizerin, mit der ich mich am Vortag unterhalten hatte, Eleonore, die Belgierin, und ich machen uns fertig. Ich nehme die Sandalen aus dem Schrank mit den Stiefeln, aus einer Laune heraus ziehe ich sie aber nicht sofort an, sondern trete barfuß auf die Straße. Ich werfe einen letzten Blick über den Fluss und die Brücke auf Ponte de Lima und schlendere dann den Weg entlang.
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| Zu jeder Tageszeit einfach einmalig schön |
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| So ging das eine Weile - man beachte die Felsen links |
Ich treffe auf eine Thüringerin, die heute noch bis Tui in Spanien laufen möchte, eine Stadt, die ich erst am übernächsten Tag erreichen möchte. "Zur Not nehme ich ein Taxi," erklärt sie, "ich habe reserviert und muss rechtzeitig da sein." Das ist das Problem mit der Planerei - sie lässt dann auch nicht viel Platz für "einfach laufen und sehen, wie weit man kommt".
Ich treffe auf die Schwedinnen kurz bevor ich mal eben in den Wald gehe. Sie haben bei dem Lärm vom Musikfestival auch nicht schlafen können. Sie hatten kein Hotel bekommen, sondern sind bei einer Privatfamilie untergekommen - ähnlich wie ich in der ersten Nacht.
Ich laufe alleine weiter und treffe auf ein Schild - ein Café wirbt mit Frühstück. Vollkommen überraschend genieße ich das erste Mal seit ich in Portugal bin ein echtes Frühstück mit Spiegeleiern und Speck, einem Brötchen, O-Saft und einem Tee. Gesättigt und zufrieden laufe ich los, als gerade ein portugiesischer Pilger ebenfalls in das Café geht. Später überholt der mich. Ich spreche ihn an und sage auf Portugiesisch: "War das nicht ein fantastisches Frühstück?" Er antwortet: "Ich habe nur einen Kaffee getrunken." Perlen vor die...
Anfangs führen die Pfeile über Feldwege, dann geht es aber in den Wald. In der Nähe eines Steinhaufens treffe ich Sabine und Thomas wieder. Sie erzählen mir, dass sie nach dem Gipfel mit dem Bus abkürzen müssen - sie haben sonst nicht genug Zeit, um Santiago zu erreichen.
Im Steinhaufen sind viele Steine mit kleinen Botschaften und einem Vermerk, wer das geschrieben hat und von wo er ist. Ich schreibe auch etwas und lege es dazu.
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| Mein Name, mein Wohnort, das Datum und: "Guten Weg!" auf Portugiesisch |
Es geht immer steiler bergan auf einer alten, römischen Straße. Rechts rauscht ein Fluss Richtung Tal. Immer mal wieder öffnet sich der Weg in eine kleine Ortschaft, nur um einem atemberaubende Aussichten in die Berge hinein zu geben.
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| Einziger Wehmutstropfen: portugiesische Kirchtürme sehen alle gleich aus - wer es nicht glaubt, einmal reinzoomen |
Nach einer Weile ist der Weg nicht einmal mehr ein Schotterweg durch den Wald, sondern besteht nur noch aus Geröll. Der Anstieg ist echt schwierig und ich muss sehr vorsichtig sein, nicht wegzurutschen. Ich erreiche ein Kreuz, an dem viele Steine niedergelegt sind.
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| Diesmal mit Bild |
Ich gehe fälschlicherweise davon aus, dass es sich um das Cruz dos Mortos, dem Kreuz der Toten handelt. Tatsächlich liegen hier auch viele Steine, in denen offensichtlich Menschen gedacht wird, viele Steine sind aber immer noch allgemeine Grüße oder Sinnsprüche.
In der Antike gab es viele Rituale für die Reinigung oder für spirituelle Sinnsuche. Die meisten hatten mit sogenannten Mysterienspielen zu tun, das war eine Mischung aus Theater und magischem Ritual. Der Sinn lag darin, einen symbolischen Tod und eine symbolische Wiedergeburt zu erzeugen. Durch eine besondere spirituelle Erfahrung sollte das alte Ich merklich aufhören zu existieren - um einem neuen Ich, einem geläuterten oder weiserem Ich Platz zu machen, das in demselben Moment geboren wird. Das nennt man auch heute noch Katharsis und es ist genau das, was eigentlich jeder, der wie ich aus spirituellen Gründen pilgert, möchte. Der Tod von einem alten Ich. Der Weg in das Labyrinth um auf den Minotaurus zu treffen, das Ungeheuer, das für unsere animalische Seite steht, unsere Seite, die nur reagiert, nicht reflektiert ist, nicht aus Weisheit sondern aus einfachen Emotionen heraus handelt, die in Ängsten gefangen ist. Dieser Mythos ist griechisch-römisch, aber ähnliche Legenden finden sich in allen möglichen Kulturen. Beowulf und Grendel. Siegfried und der Drache. Thor und die Eisriesen.
Der Held sucht das Ungetüm auf und erschlägt es. Und durch das Erschlagen macht er in sich Platz für ein neues Ich, das sanfter, stärker, mutiger und weiser ist.
Entgegen der weitverbreiteten Meinung ist "Labyrinth" kein Synonym für "Irrgarten". Ein Labyrinth sieht auf dem ersten Blick ähnlich aus, hat aber einen entscheidenden Unterschied: egal wie verworren das Labyrinth ist, es gibt nur einen Weg. Man kann sich in einem Labyrinth nicht verlaufen. Der Weg ist klar - genauso wie auf dem Jakobsweg. Man muss ihm nur folgen. Wer mir das nicht glaubt, der soll einfach mal Bilder vom Labyrinth von Chartres ansehen, das in der dortigen Kathedrale zu finden ist. Viele Menschen gehen da hin um dieses abzulaufen - es ist aber nur ein einziger Weg ohne Abzweigungen. Man kann ihn nur rein oder raus laufen.
Habe ich schon meinen Minotaurus gefunden? Habe ich schon eine Ahnung, was mein Monster ist?
Nein. Aber ich habe schon den Eindruck, dass mich der Weg verändert hat. Ich denke viel darüber nach, was man eigentlich so im Rucksack mit sich herumschleppt und was nicht. Was ist nötig und was ist nützlich? Und was bedeutet diese Erkenntnis für mich?
Die Erkenntnis, dass Dinge, die nützlich sind, nicht automatisch auch notwendig sind, ist eigentlich einfach, fast banal. Aber irgendwie merke ich, dass sie für mich noch eine tiefere Bedeutung hat. Dass da etwas ist, was ich noch nicht ganz gesehen habe, etwas tiefergehendes. Etwas, was am Rand tönt. Wie das Gebrüll eines Minotaurus'.
Ich hebe einen Stein auf, schreibe eine Botschaft darauf und lege ihn auf den Steinhaufen. Dann ziehe ich weiter.
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| Hey, ich habe nicht behauptet, dass das eine neue Erkenntnis ist |
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| Ich habe auch Fotos der Geröllstrecke, die sind aber nichts für schwache Nerven |
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| Einmal drauf klicken - man sieht es recht gut |
Hier geht es um den echten Tod. Nicht den symbolischen. Sondern den Tod eines geliebten Menschen, der nun nicht mehr mit einem durch das Leben geht. Einige Steine deuten an, dass es sich bei dem jeweiligen Verstorbenen um einen Pilger handelte. Ein Stein hält einen Zettel. Bei näherem Hinsehen ist es ein Terminzettel von einem Arzt. Es stehen dort drei Termine pro Woche über einen Zeitraum von drei Monaten, der Zettel ist voll. Vermutlich Chemotherapie - und die Art, wie derjenige an seinen geliebten Menschen erinnern will, berührt mich mit am meisten durch seine ehrliche und harte Schlichtheit.
Immer wieder stehen dort Nachrichten in verschiedenen Sprachen, auch auf Deutsch.
Ich entschließe mich, auch meinen Toten hier zu gedenken und schreibe auf einen Stein den Namen meines Vaters und den von Christian, einem guten Freund von mir, der in demselben Jahr an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb.
"Der Weg ist der große Gleichmacher," habe ich öfters Pilger sagen hören. Denn egal ob arm oder reich, ob berühmt oder unbedeutend, alle Pilger laufen in dieselbe Richtung. Alle laufen wir den Jakobsweg - jeder auf seine Weise versteht sich. Aber dennoch haben wir die gleichen Probleme und das gleiche Ziel.
Ich muss daran denken, dass man im Mittelalter den Tod als den großen Gleichmacher bezeichnet hatte. In der Feudalgesellschaft war das die große, harte Wahrheit: egal ob arm oder reich, berühmt oder unbedeutend - wir werden alle sterben und wir nehmen nichts mit in den Tod. Damals, als man noch an Wundstarrkrampf, Tollwut und Pest starb und man gerne unter Qualen und Schmerzen dahinsiechte und dabei sich immer wieder aufbäumte, nannte man das den Totentanz. Der Schnitter, Gevatter Tod, kommt, um mit dir zu tanzen und du kannst die Aufforderung nicht ablehnen. Egal, ob du König oder Bettler bist. Musik wurde zu diesem Ball komponiert, Gedichte und Gemälde beschreiben das Unvermeidliche, aber in seiner Unvermeidlichkeit auch ehrliche und gütige. Denn egal, wer für dich im Leben da war, der Schnitter ist es am Ende für uns alle. Mal sanft und mal hart. Du kannst es hinauszögern. Du kannst es dir angenehmer gestalten. Aber entkommen kannst du nicht.
Klaus und ich laufen weiter, bis ich auf einen Gebirgsbach treffe. Nach dem ganzen Nachdenken über den Tod trifft mich eine ganz andere, irdische Erkenntnis: meine Füße strotzen vor Dreck und sind müde und hier ist ein frischer, klarer Bach und ich will unbedingt meine Füße da rein halten und sie waschen. Ich lege mir mein Handtuch bereit - Klaus will solange nicht warten und geht weiter, aber ich bereue meine Entscheidung nicht - das Wasser ist unendlich erfrischend und ich kann meine Zehen wieder sehen.
Klaus treffe ich in einem Café wieder, wo auch die Amerikaner sich gerade aufmachen. Ich kaufe einen Snickers, Eis, eine Zitronenlimonade und drei Eistee und kippe alles in mich hinein, bis ich mich wieder klar im Kopf fühle. Danach laufe ich mit Klaus nach Rubiães hinein. Am Wegesrand finde ich wieder hübsche Zeichnungen von... Hunden? Füchsen? Man weiß es nicht. Mir gefallen die Symbole sehr.
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| Irgendwie haben sie was von Höhlenmalerei... |
Wir gehen zusammen mit Klaus essen in einem Restaurant, das nicht weit entfernt ist, in der Nähe einer anderen Herberge, in der wir Sarah und die Amerikaner finden. Im Restaurant treffen wir auch Joost und Nanette. Als wir fertig gegessen haben und uns auch den Nachtisch gegönnt haben, kommt Eleonore, die Belgierin, und fragt auf Französisch, ob das Essen gut sei. Ich sage ja und erkläre ihr, was es gibt. Der Kellnerin gefällt das sehr und als ich nach den Desserts gefragt werde, souffliert sie mir auf Portugiesisch und ich versuche so gut es geht auf Französisch zu übersetzen.
Zurück in der Herberge schauen wir gebannt zu, wie ein portugiesischer Arzt Susann verarztet. Diese hat stolze sieben Blasen, die sie plagen. Einige drücken dabei auf sehr empfindliche Stellen. Der Arzt legt mit Nadel und Faden Drainagen und quiekt immer mal wieder vergnügt auf Englisch: "Oh... DAS wird jetzt weh tun." Ich lenke Susann so gut es geht damit ab, dass ich sie über dänische Fernsehsendungen ausfrage.
Das Schuhwerk ist natürlich eine Sache des eigenen Wegs. Ich bin bislang der einzige Pilger, den ich gesehen habe, der in Sandalen unterwegs ist. Einige tragen Turnschuhe, die meisten tragen Wanderschuhe. Viele verwenden dabei noch zusätzlich Wanderstöcke, mit denen sie in einem bestimmten Takt klicken. Aber irgendwie hat fast jeder bereits mit größeren Problemen zu kämpfen gehabt. Ich hatte in den ersten drei Tagen einen leichten Muskelkater im Spann in beiden Füßen und eine kleinere Blase, die ich in Ponte de Lima verarztet hatte. Außer diesen beiden Sachen ging es mir gut, auch, wenn ich genau wie alle anderen Pilger abends dann nicht mehr ordentlich gehen konnte und mehr watschelte als lief. Aber ja. "Hoffentlich bleibt das so!" denke ich und schlafe ein.
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